Wohnraum teilen und Gemeinschaft bilden: Clusterwohnen in der Stadt Zürich

29.11.2023 Zusammen – aber mit Rückzugsmöglichkeiten: So sieht das Leben in den Wohnclustern der Siedlungen Heizenholz und Karthago aus. Wichtige Grundpfeiler sind neben dem geteilten Wohnraum auch die Mitwirkung und Teilhabe. Wie sich das Leben in Gross-WGs und Wohnclustern ganz konkret gestaltet, zeigen uns langjährige Bewohner*innen aus den beiden Wohnprojekten.

Urban und mitten in Zürich-Wiedikon liegt der Grosshaushalt Karthago. Vier bis zehn Schlafzimmer gruppieren sich jeweils um ein geräumiges Wohnzimmer mit integrierter Gemeinschaftsküche und ein bis drei Badezimmern. Wochentags muss man hier abends nicht in der Küche stehen: dann ist eine professionelle, entlöhnte Köchin am Werk, die für die gesamte Hausgemeinschaft von rund fünfzig Personen das Essen zubereitet. Wer mitessen will, trägt sich in eine Liste ein und bezahlt einzeln oder in Form einer Pauschale. Im grossen Essraum im Erdgeschoss füllen sich aber nicht nur die Mägen. Mindestens genauso wichtig sind die Begegnungen: Hier schmiedet man gemeinsame Pläne, erfährt, wie es den Mitbewohner*innen gerade geht, diskutiert und politisiert.

Karthago Eingangsbereich
Eingangsbereich des Grosshaushalts Karthago. Bild: BFH

Professionell gekochtes Nachtessen als Bindeglied

«Je weniger dogmatisch eine Idee, desto mehr Erfolg hat sie.» Dieser Satz ist für Mitgründer Martin Lassner zentral. Er gelte auch heute noch für das Zusammenleben, das 1997 im selbstverwalteten Wohnprojekt Karthago begann. «Es geht um die Reduktion aufs Pragmatische, aufs Machbare», ergänzt er. Deshalb wurde der Grosshaushalt im Erdgeschoss mit einer Profiküche ausgestattet, in der von Anfang an eine bezahlte Köchin oder ein bezahlter Koch das Abendessen für alle zubereitet. Das Wohnkonzept von Karthago scheint immer noch aktuell zu sein. Die Interessiertenliste ist lang und in all den Jahren hat Karthago immer um die 50 Personen beherbergt. «Im Durchschnitt gibt es in unserem Wohncluster etwa einen Wechsel pro Jahr», erzählt David Sgier, der mit seiner Familie bereits seit vielen Jahren hier lebt. Die Bewohnenden der Gross-WG veranstalten dann «Castings», was er als «spannend, aber auch anstrengend» empfindet. Deshalb: «Eine gewisse Kontinuität ist wichtig, sonst wird das Zusammenleben zu unruhig».

Wir stellen vor: Generationenwohnen in der Schweiz

Die Idee des Generationenwohnens hat Konjunktur. Generationenwohnenprojekte bilden wichtige Grundpfeiler des Lebens für die Gesellschaft. Sie führen zu Solidarität, Mithilfe, Beziehungspflege, aber auch zu Autonomie und Selbständigkeit.Mit dem gesellschaftlichen Interesse ist auch das Forschungsinteresse an diesen Projekten in den letzten Jahren gestiegen. So untersuchen das Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung der BFH, das ETH Wohnforum und das interdisziplinäre Netzwerk Age-Research gemeinsam das Generationenwohnen in der langfristigen Perspektive. Ein Teil des Forschungsprojekts bilden Exkursionen zu verschiedenen Wohnprojekten. Sie bieten Einblicke in unterschiedliche Formen zeitgenössischen Generationenwohnens. Pro Exkursion wird je ein in den Fallstudien untersuchtes und ein im Forschungsprojekt dokumentiertes Projekt besucht. Die Erkenntnisse werden so vertieft und miteinander in Beziehung gebracht. Neben dem Einblick in verschiedene Wohnrealitäten vernetzen die Exkursionen interessierte Personen im Bereich des gemeinschaftlichen und intergenerationellen Wohnens.

In losen Abständen stellen wir Ihnen hier einige dieser Standorte vor und teilen die Erkenntnisse daraus.

Flexibilität, Kommunikation und Respekt sind entscheidend

Organisatorisch funktionieren die einzelnen Wohncluster als eigenständige Vereine, was ihnen die Freiheit gibt, die Miete nach eigenen Berechnungen untereinander aufzuteilen. Das Zusammenleben in der Gross-WG, in der auch die Badezimmer geteilt werden, birgt auch Reibungspotenzial. Damit das Kochen am Wochenende besser klappt, hat ein Cluster jetzt eine grössere Küche eingebaut. Wenn am Sonntagabend vier Parteien gleichzeitig kochen wollen, braucht es aber weiterhin Absprachen. Flexibilität, Kommunikation und gegenseitiger Respekt bleiben zentral.

Diese Nähe ist nicht jedermanns Sache.

David Sgier

Die Wände seien dünn, erzählt David Sgier, neue Beziehungen zum Beispiel bekomme die Gemeinschaft schnell mit. Diese Nähe sei aber nicht jedermanns Sache, gerade auch dann, wenn man mit der Kindererziehung an die eigenen Grenzen stosse. «Paare mit kleinen Kindern ziehen oft wieder aus», verrät der zweifache Familienvater. «Man ist hier mit der Kindererziehung ausgestellt, damit können nicht alle umgehen.» Auch die fehlende kurzfristige Verfügbarkeit eines zusätzlichen Zimmers, wenn sich Nachwuchs ankündigt, mache es Familien schwer, hier zu bleiben. Dann werden auch die Kosten ein Thema. Trotz der Wohnpreisverbilligung pro Kind können die rund 800 Franken pro Zimmer bei zwei bis drei genutzten Zimmern zu stattlichen Kosten führen, die einer regulären Wohnung entsprechen. Bei den Genossenschaftsanteilen ist man es hingegen gewohnt, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wenn jemand diese nicht aufbringen kann.

Aussentreppe Terrasses communes Heizenholz
Terrasses communes der Siedlung Heizenholz. Bild: BFH

Clusterwohnen im Mehrgenerationenhaus Heizenholz

Den rund 100 Genossenschafter*innen im Mehrgenerationenhaus Heizenholz, das am grünen Höngger Stadtrand liegt, bietet sich eine Vielfalt an unterschiedlichen Wohnformen und -grössen. Unterschiedlichste Wohn(raum)ansprüche und Bedürfnisse nach Gemeinschaft werden hier abgedeckt. In den beiden Wohnclustern und den Grosswohngemeinschaften wird abends nicht separat gekocht. Vielmehr übernehmen reihum die Bewohner*innen das Kochen. Die verantwortliche Person bestimmt nicht nur das Menü, sondern besorgt und bezahlt auch die Zutaten – so kann den eigenen Kochkünsten und der persönlichen finanziellen Situation Rechnung getragen werden.

In die beiden Wohnblöcke, die ursprünglich als Kinder- und Jugendheim genutzt wurden und nun umfassend saniert sind, wurden neben Ein- bis Sechseinhalbzimmerwohnungen auch zwei Clusterwohnungen und zwei grosse Wohngemeinschaften integriert. Die Cluster und WGs sind alle zwischen 250 bis und 330 m2 gross. Salome In-Albon, die schon seit der Eröffnung vor elf Jahren im Heizenholz lebt, zeigt uns einen der Wohncluster. Sieben Erwachsene und drei Kinder teilen sich einen hellen, gemütlich eingerichteten Wohnraum. Um diese geräumige Stube mit integrierter Gemeinschaftsküche gruppieren sich mehrere Kleinwohnungen mit jeweils ein bis drei Zimmern. Alle Wohnungen haben ein eigenes Bad und eine kleine Küche.

Treffpunkt Treppenhaus

Die beiden Wohnhäuser konnten 2012 bezogen werden. Baulich wurde das Wohnkonzept durch einen Verbindungsbau mit Gemeinschaftsräumen sowie neu angebaute Terrassen unterstützt. Diese sind über eine Aussentreppe miteinander verbunden und somit für alle gut einsehbar. Mit dieser architektonischen Gestaltung soll die Begegnung gefördert werden. Der Einkauf von Grundnahrungsmitteln geschieht gemeinsam – und damit im grösseren Massstab: Die zentral eingekauften Vorräte lagern unverpackt in grossen Dispensern im «Depot commün» und erinnern an ein hauseigenes Reformhaus. Werkstatt, Dachterrasse und die «Salle commün» – ein Gemeinschaftsraum – bieten weitere Anreize, Leben und Raum hier zu teilen.

Das innenliegende Treppenhaus, das bis zur Dachterrasse führt, ist in Sichtbeton gehalten. «Viele Bewohner*innen störten sich zu Beginn an dieser Materialwahl», erzählt Salome In-Albon. Man einigte sich aber darauf, dem grauen Beton keinen Farbanstrich zu verpassen, sondern ihn zu einem lebendigen Ort zu machen. Seither finden im Treppenhaus regelmässig Ausstellungen, Apéros oder andere Anlässe statt. Unvergessen ist für viele das immense rote Fadengebilde der Künstlerin Sabina Kaeser, das irgendwann neuen Kunstprojekten im Treppenhaus weichen musste und in einer Finissage von den Hausbewohner*innen mit Scheren entfernt wurde. Im Moment ist Platz für Spielerisches: Über mehrere Stockwerke zieht sich eine «Chügelibahn», diesmal Marke Eigenbau.
 

Innentreppe Heizenholz
Treppenhaus im Heizenholz: Treffpunkt und Kunstraum. Bild: BFH

Letztendlich sind es immer die Beziehungen, die es ausmachen.

Salome In-Albon

Füreinander sorgen

«Das Zusammenleben ist geprägt vom Engagement verschiedener Betriebs- und Arbeitsgruppen», erzählt Salome In-Albon. «Aber niemand muss mitmachen», ergänzt sie. Jedoch fänden viele Gefallen daran, sich zu betätigen. Die Gruppen konstituieren sich selbst, je nach Interesse. Im Frühling putzt, gärtnert und repariert die Hausgemeinschaft an zwei Aktionstagen gemeinsam. An vier Haussitzungen pro Jahr werden gemeinsam Pläne, Anschaffungsvorschläge, aber auch Nutzungskonflikte diskutiert.
Wie fühlt sich das Leben und die Gemeinschaft in dieser Siedlung an? «Es ist eine Bubble», ist für Salome In-Albon klar. «Aber eine mit einem sehr hohen Bewusstsein fürs Kümmern umeinander». So unterstützt man einander, wenn jemand gesundheitliche Probleme hat, lädt die betroffene Person reihum zum Essen ein, hilft ihr beim Einkauf oder der Wäsche. Um den Überblick zu behalten, wird hierzu die digitale BeUnity-Plattform genutzt. Damit vernetzten sich Jüngere wie Ältere. Damit aber das Zusammenleben wirklich gelingt, brauche es den Menschen: «Letztendlich sind es immer die Beziehungen, die es ausmachen.»

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