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Das verkannte Potenzial der Elternarbeit in der stationären Jugendhilfe
15.01.2024 Nina Moser arbeitet in einer Beobachtungsstation und Wohngemeinschaft für Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren und ist dort zuständig für die Arbeit mit den Eltern und dem Familiensystem. Im Interview gibt sie Einblick in ihre Tätigkeit und zeigt auf, welches Potenzial in der systemischen Begleitung der Eltern steckt.
Nina Moser, Sie haben sich in Ihrer Abschlussarbeit für den MAS Systemische Beratung mit der Elternarbeit in der stationären Jugendhilfe beschäftigt. Sie sind der Frage nachgegangen, wie die elterliche Präsenz in diesem Kontext gestärkt werden kann. Was hatte Sie dazu bewogen, sich mit diesem Thema näher zu beschäftigen?
Nina Moser: Die Elternarbeit hat bei uns in der «Stiftung Heimgarten» einen wichtigen Stellenwert. Als ich die Masterarbeit schrieb, war ich die Einzige, die im Bereich Eltern- und Systemarbeit tätig war. Es war für mich deshalb sehr wichtig, mich auch theoretisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Durch die Masterarbeit konnte ich legitimieren, warum ich mache, was ich mache, warum dies Sinn ergibt. Meine innere Haltung konnte sich festigen.
Ich habe mich vertieft mit dem Ansatz der elterlichen Präsenz von Haim Omer und mit der Multifamilientherapie von Eia Asen beschäftigt. Mich hat der scheinbare Widerspruch fasziniert, dass die Kinder und Jugendlichen stationär platziert sind und ich mit den Eltern gleichzeitig an deren Präsenz arbeite. Es geht mir bei meiner Arbeit in der Institution tatsächlich darum, die Eltern wieder in ihre elterliche Präsenz zu bringen, wenn ihnen diese abhandengekommen ist.
Klingt paradox und gleichzeitig nachvollziehbar. Der Begriff der Präsenz ist bereits seit Längerem in aller Munde, etwa in der Beratung, in der Supervision oder eben auch in der Arbeit mit Kindern und Eltern. Was ist darunter zu verstehen? Was macht es aus, elterlich präsent zu sein?
Man muss sich zunächst bewusst machen, was eine Eltern-Kind-Beziehung ausmacht. Es gibt keine andere Beziehung wie diese. Ein Kind hat nur diese eine Mutter, diesen einen Vater oder diese Elternteile, in welcher Konstellation auch immer. Elternteile oder auch Kinder können sich zwar abwenden, den Kontakt abbrechen, sich gegenseitig verfluchen – trotzdem bleiben sie wichtige Bezugspersonen. Es ist also eine präsente Beziehung. Ob man will oder nicht. Das ist das Spannende. Bei der elterlichen Präsenz geht es um die Haltung, gegenüber dem Kind zu vertreten «Ich bin hier und bleibe hier. Egal, wie Du Dich verhältst». Es geht also nicht um das Verhalten der Kinder, sondern um die Haltung der Eltern, Verantwortung für die Beziehung zu den Kindern zu übernehmen.
Nina Moser
Nina Moser hat 2009 den Bachelor in Sozialer Arbeit an der BFH abgeschlossen. Ihre Arbeitserfahrung sammelte sie mehrheitlich rund um das Thema Jugendliche und junge Erwachsene. Sie war in der Sozialhilfe tätig, führte Beistandschaften von Kindern und Jugendlichen und arbeitete in stationären Einrichtungen wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuhaus. Im Dezember 2021 schloss sie den MAS Systemische Beratung ab. Ihre Masterarbeit ist erhältlich in der Edition Soziothek.
Wie vermitteln Sie das den Eltern in der Praxis?
Das Angebot der Elternarbeit ist fast immer freiwillig. Die Eltern werden gefragt, ob sie Begleitung wollen. Dabei muss man sehen, wie viele Stationen diese Eltern meist bereits hinter sich haben, wie viele Gespräche sie schon geführt haben. Sie erleben das Gefühl elterlicher Ohnmacht, haben das Gefühl, versagt zu haben und keine richtigen oder guten Eltern zu sein. Der Hauptteil meiner Arbeit besteht darin, diesen Weg, den sie als Eltern bereits gegangen sind, wertzuschätzen und sie gleichzeitig einzuladen, weiterhin als Eltern dranzubleiben, auch wenn ihr Kind zurzeit nicht unter ihrer Obhut lebt.
Und wie machen Sie das konkret?
Genau mit der Grundhaltung der elterlichen Präsenz: «Es geht hier um Ihre Tochter, Sie sind Expert*in für Ihr Kind. Wir brauchen Sie in diesem Prozess. Ohne Sie geht es nicht. Wir können mit Ihrem Kind arbeiten, aber wenn das nicht in Zusammenarbeit mit Ihnen passiert, bringt das alles nichts.»
Wie reagieren die Eltern auf diese Art von Einladung?
Sie sind meist erstmal irritiert, weil sie es nicht gewohnt sind, dass man so mit ihnen spricht, dass man sich für sie interessiert. Ich glaube, dass meine Arbeit wirkt, weil den Eltern die Erfahrung gegeben wird, dass sie für Ihr Kind wichtig sind. So ergibt es für sie Sinn, zu kommen und sich zu engagieren. In sechseinhalb Jahren habe ich es nur zweimal erlebt, dass Eltern nicht zum Gespräch gekommen sind. Beides mal war eine Drogenabhängigkeit der Grund. Alle anderen Eltern kamen und arbeiteten mit.
Meine Energie fliesst hauptsächlich da hin: Ich zeige auf, wie wichtig sie als Eltern für das Kind sind. Aber nicht nur den Eltern gegenüber leiste ich diese Klärungsarbeit, sondern auch innerhalb des Teams. Systemisches Arbeiten wird oft verwechselt mit einer Art Case Management, da wird mit Schulen, Behörden, Ärzt*innen und Therapeut*innen zusammengearbeitet. Die Eltern kommen darin oft nicht vor: Weil sie anstrengend sind, weil Eltern mit Herzblut, teilweise mit Wut und anderen Emotionen beteiligt sind. Alle anderen Beteiligten können die Fälle sachlich bearbeiten. Mit Eltern geht das nicht, weil hier Bindung auf der Gefühlsebene besteht. Und genau diese müsste viel stärker als Ressource betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund finde ich es erstaunlich, welch kleine Rolle den Eltern im stationären Kontext in der Regel zugesprochen wird. Wir haben zwar nun eine gesetzliche Grundlage, aber in der Regel keine Ressourcen für die Elternarbeit.
Der MAS Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit im Detail
Der MAS Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit bietet eine fachliche Spezialisierung für die Gestaltung wirksamer Beratungs- und Begleitprozesse, auch in sozialpädagogischen und anderen angrenzenden Kontexten.
Weiterführende Informationen
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Eltern verspüren oft eine grosse Hilflosigkeit.
Ja, das ist das Schlimme: in unserer Gesellschaft geht man davon aus, dass man einfach intuitiv weiss, wie Erziehung funktioniert. Eltern-Sein ist einer der wenigen Jobs, für den man keine Prüfung ablegen muss. Die Eltern, mit denen ich arbeite, sind manchmal so beschämt über ihr «Versagen», dass sie teilweise sogar ihrem ganzen Umfeld verheimlichen, dass ihre Tochter stationär bei uns ist.
Wie gelingt es dann, dass Eltern ihre Präsenz wiedererlangen?
Selbstfürsorge ist ein wichtiges Thema bei der Arbeit mit den Eltern. Ich versuche, ihnen bewusst zu machen, dass sie einerseits Eltern sind, aber andererseits auch Individuen mit je eigenen Bedürfnissen. Nur wenn das Individuum gesund ist und bleibt, kann elterliche Präsenz möglich sein. Und ich rede mit ihnen darüber, dass sie selbst einmal Kind waren und Erfahrungen mit den eigenen Eltern in sich tragen. Ich lade sie dann jeweils ein, diese Erfahrungen zu reflektieren und sich zu fragen, was das für die Beziehungsgestaltung zu ihrem Kind bedeutet.
Stichwort Beziehungsgestaltung: Sie haben sich auch mit der systemisch ausgerichteten Bündnisrhetorik auseinandergesetzt. Worum geht es da?
Es geht darum, dass über Kommunikation die Zugehörigkeit abgesichert werden kann. Beziehung funktioniert über Kommunikation. Daher ist in meiner Arbeit beispielsweise die Beobachtung von Begrüssungssituationen oder von Mittagstischsituationen sehr hilfreich, um herauszuarbeiten, wie Eltern und Kind miteinander in Beziehung stehen. Passt die gewählte Sprache, der gewählte Umgang zur geäusserten Haltung? Kongruenz ist da wichtig, denn sie schafft Orientierung für das Kind.
Gerade bei platzierten Kindern existiert bis heute die Idee, bei ihnen sei etwas kaputt, man bringe sie mal eben in eine «Garage», flicke sie dort und dann seien sie wieder ganz. Damit verkennt man das Potenzial einer systemischen Arbeitsweise, die den Lebenskontext immer mitberücksichtigt.
Hat sich die systemische Sicht- und Arbeitsweise im sozialpädagogischen Arbeitsfeld bereits etabliert?
Seit Anfang 2022 müssen im Kanton Bern alle Institutionen, die unter dem kantonalen Jugendamt laufen, Elternarbeit anbieten. Doch die Art und Weise, wie man das macht, ist völlig frei. Ich stelle fest, dass es hier noch sehr grosses Entwicklungspotenzial gibt. Gerade bei platzierten Kindern existiert bis heute die Idee, bei ihnen sei etwas kaputt, man bringe sie mal eben in eine «Garage», flicke sie dort und dann seien sie wieder ganz. Damit verkennt man das Potenzial einer systemischen Arbeitsweise, die den Lebenskontext immer mitberücksichtigt.
Was sind Ihre systemischen «Klassiker» in Elterngesprächen?
Zum Beispiel sind die Grundhaltungen der Neugier und Empathie sehr hilfreich, ebenso die systemischen zirkulären Fragestellungen. Ich achte auch immer wieder darauf, mit Hypothesen zu arbeiten. Denn man muss sich bewusst sein: Kein Familiensystem ist wie das andere.