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Es bleibt eine Frage! Winterschool zum Thema Religion und Soziale Arbeit
27.09.2023 Religion bleibt auch in der Gegenwartsgesellschaft eine Frage, die Bachelor-Studierende Sozialer Arbeit umtreibt. Sie verstehen Religion oft als Thema des Konflikts und der Grenzziehung. Religion als Ressource zu nutzen, ist ihnen eher unvertraut. Wie diese Annahmen das Denken und Handeln der Sozialarbeiter*innen prägen, ist eine weiterführende Forschungsfrage.
Oft hört man den (scherzhaft gemeinten?) Satz, in der Schweiz sei es ein grösseres Tabu, über Religion zu sprechen als über Sexualität oder Geld. Das scheint auch für Sozialarbeitende und die Soziale Arbeit zu gelten. Das, so die These unseres explorativen Forschungsprojekts, führe zu «verkürzter Professionalität». Entsprechend überrascht waren wir, als wir von den sechzig Einschreibungen für unsere Bachelor-Winterschool «Zwischen Abgrenzung und Dialog. Umgang mit Religiosität und Spiritualität» erfuhren – nie hätten wir mit so vielen Studierenden (unter anderem aus dem deutschsprachigen Ausland) gerechnet.
Neugier statt Tabu
Religion ist teilweise tabuisiert und zunehmend unwichtiger geworden: Aktuell verortet sich rund ein Drittel der in der Schweiz lebenden Menschen als Personen ohne Religionszugehörigkeit. Und die Religiosität nimmt in jeder Generation deutlich ab. Gerade für einen Grossteil der jungen Menschen ist Religion immer weniger wichtig. So liegt in der Gruppe der 12- bis 25-Jährigen der Anteil Menschen, für die der christliche Glaube wichtig ist, bei rund einem Drittel. Nur bei muslimischen Jugendlichen liegt der Anteil mit 73 Prozent deutlich höher.
Doch offenbar weckt das Thema Religion Interesse bei den Studierenden, denn Religion ist weder aus der Gesellschaft noch dem Alltag der Klient*innen verschwunden. Im Studium oder in den Praxisfeldern gibt es jedoch kaum Gelegenheiten, über einen fachlich angemessenen Umgang mit Religion und religiösen Menschen zu diskutieren. Die Winterschool sollte ein erster Schritt dazu sein. Zugleich sollte diese Studienwoche uns Dozierende zu neuen Forschungsfragen anregen.
Religion wirft Fragen auf!
Zum Einstieg in die Woche baten wir die Studierenden, Fragen zu formulieren, die sie in Bezug auf diese Thematik umtreiben. Einige interessierte generell, wie religionssensible Soziale Arbeit in der Praxis aussieht. Sie erhofften sich Praxisbeispiele, Anwendungen und Methoden – gerade auch, wenn sie selbst unvertraut mit dem Thema waren. Diese Studierenden wollten sich namentlich mit folgenden Fragen auseinandersetzen: «Kann ich, ohne selbst gläubig zu sein, meine Klient*innen mit religiösem oder spirituellem Glauben verstehen? Wie wirkt sich dies auf die Zusammenarbeit aus?»
Dieser Einstieg verdeutlichte, dass Religion Fragen aufwirft – aber auch fraglich ist und in Frage steht. So zielte ein Grossteil der Fragen auf Grenzen und Wertkonflikte, Konflikte zwischen Religionen und konfessionellen Personen. Viele Studierende wollten «Beispiele für Konfliktsituationen (Diskriminierungen)» besprechen.
Diese Fragen bezogen sich häufig auf Unterscheidungen und Grenzziehungen: Wann ist Religion eine Ressource, wann eine Gefahr? Wann schränkt sie ein? Wann unterstützt oder befreit sie? Wo liegt die Grenze zu gefährlichem und fanatischem Glauben? Diese Grenze zu kennen, scheint für die Studierenden entscheidend, um adäquat zu handeln. Eine Frage wurde folgendermassen ausformuliert: «Wie kann ich als Sozialarbeitende mit fanatischem oder problematischem Gedankengut umgehen?» So wurde zum Beispiel die Befürchtung geäussert, dass «die religiösen oder spirituellen Praktiken und Weltanschauungen von Klient*innen» zum Teil auch «die Menschenwürde und die Werte der Sozialen Arbeit verletzen» könnten.
Die Studierenden fragten sich daher auch: «Was kann oder soll ich tun, wenn ein*e Klient*in meiner Meinung nach in Richtung Extremismus rutscht, ohne seine*ihre Rechte der Glaubensfreiheit einzuschränken? Soll ich im freiwilligen Kontext nahe[legen], die Zusammenarbeit zu beenden?»
Die Vorstellung, Religion stelle vor allem eine Gefahr dar, spiegelt sich auch in der Annahme, Religion könne den Klient*innen schaden: So wurde zum Beispiel gefragt, was zu tun sei, wenn «religiöse Ansichten einer*eines Klient*in negative Auswirkungen auf eine Stabilisierung oder Verbesserung des derzeitigen Zustands haben». Die Sorge, Klient*innen könnten eventuell negativ durch Religion beeinflusst oder gestört werden, liegt auch der folgenden Frage zu Grunde: «Inwieweit sind spirituelle oder religiöse Rituale, zum Beispiel auf Wohngruppen, vertretbar? Gibt es auch hier eine Grenze, was professionell vertretbar ist? Ab wann wirkt eine solche Soziale Arbeit missionierend?» Ein unterstelltes Zuviel an Religion, so wird hier implizit angenommen, könnte also nicht nur den Klient*innen, sondern auch der Professionalität und der Profession schaden.
Dieser Artikel ist im September 2023 im Printmagazin «impuls» erschienen.
Religion als Gefahr zu sehen, birgt selbst Gefahren
Diese Fragen der Studierenden stehen exemplarisch für Fragen, die wohl viele Menschen und viele Sozialarbeiter*innen bewegen. Doch sie werfen ihrerseits Fragen auf, denn es scheint, als werde Religion vor allem als Konfliktthema und als mögliche Gefahr für die Klient*innen wahrgenommen. Welche Einstellung zu Religion und religiösen Menschen verbirgt sich dahinter? Werden religiöse Menschen vor allem als gefährlich oder als gefährdet angesehen? Wird Religion vor allem in ihrer extremistischen Ausprägung und werden religiöse Menschen vor allem über ihre Religiosität wahrgenommen?
Aus professioneller Sicht sind diese Annahmen problematisch, denn sie verhindern einen unbefangenen Blick auf religiöse Klient*innen. Wenn Religion zur zentralen Differenzkategorie schlechthin wird, besteht die Gefahr, alle Herausforderungen und Schwierigkeiten der Religiosität der Klient*innen zuzuschreiben. Mehr noch: Es besteht die Gefahr, religiöse Menschen zu dämonisieren und zu diffamieren. Das trifft, wie die Gastreferentin Asmaa Dhebi betonte, insbesondere Muslim*innen.
Ebenso problematisch ist es aber, die Religiosität von Klient*innen zu ignorieren. Beide Varianten der Verkennung verweigern den Klient*innen die Anerkennung ihres individuellen So-Seins. Wie problematisch das sein kann, hob der Gastreferent Burim Luzha mit Verweis auf Charles Taylor hervor: Die Nicht-Anerkennung oder Verkennung «[...] kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschliessen», denn «[...] unsere Identität werde teilweise von Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt».
Religion, Glaube, Spiritualität können – müssen aber nicht! – für Klient*innen Ressourcen der Lebensbewältigung darstellen, mehr noch: sie können wesentlich zur Identitätsbildung beitragen. Wie also auf Religion und Religiosität professionell reagieren? Wie kann Religion im Kontext der Sozialen Arbeit nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Ressource eingesetzt werden? Diese letzte Frage wurde in der Winterschool anhand vielfältiger Praxisbeispiele diskutiert. Dabei wurde deutlich: Unabdingbar ist es, Annahme, Empathie und Offenheit zu signalisieren – und dem zuzuhören, was die Klient*innen tatsächlich sagen. Nicht selten sprechen Klient*innen zum Beispiel mehr oder weniger explizit von der Hoffnung und dem Trost, die sie durch ihren Glauben erfahren. Es kann den Unterstützungsprozess in eine neue fruchtbare Richtung lenken, auch das indirekt oder nebenbei Geäusserte zu hören – ohne es zu unterstellen.
Zur Winterschool
Die Winterschool «Zwischen Abgrenzung und Dialog. Umgang mit Religiosität und Spiritualität» vom Februar 2023 geht auf das Forschungsprojekt «Verkürzte Professionalität?! Religion und Spiritualität in der Beratung» zurück.
Es bleiben Fragen
In der Feedbackrunde zur Winterschool blieb das Thema Religion als Ressource kontrovers: Die meisten waren überrascht, einige angetan, wieder andere etwas irritiert, dass Religion von uns weniger als Gefahr, denn als Ressource gesehen wurde.
Für die Forschung ergeben sich aus diesen Beobachtungen weitere Fragen: Es lohnt sich, mehr über die (unbewussten) Bilder, Vorannahmen, Ängste oder Unsicherheiten zu erfahren, die das Denken und Handeln (angehender) Sozialarbeiter*innen prägen. Dabei sollte auch nicht die Frage ausser Acht gelassen werden, welche Rolle dabei die eigenen Erfahrungen mit Religion, Religiosität, Spiritualität und religiösen Menschen spielen.
Dass viele Studierende aktuell eher wenig bis keinen biografischen Bezug zum Thema haben, könnte auch eine Chance für Neugier und unbefangenes Interesse sein – vorausgesetzt, Religion wird damit nicht zu einem Thema, das religiöse Menschen unter der Hand zu «Anderen» macht, die belächelt und ausgegrenzt werden.
Literatur
Rubrik: Studium