«Wer partizipativ unterwegs ist, ist immer auch lernend unterwegs»

30.11.2023 Marlise Graf berät und unterstützt kirchliche Mitarbeitende bei der partizipativen Gemeindeentwicklung. Beim Vernetzungstreffen für Caring Communities an der BFH zeigten sich enge Anknüpfungspunkte zwischen ihrer Arbeit und der Ausrichtung des Kompetenzzentrums Partizipative Gesundheitsversorgung. Im Interview erzählt sie, wie Partizipation gelingt und wo die Stolpersteine liegen. Und über ihr liebstes Good-Practice-Beispiel: einen Klimatrail.

Sie sind seit 2021 Fachbeauftragte Partizipative Gemeindeentwicklung bei den «Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn». Was ist Ihre Aufgabe?

Marlise Graf: Meine Aufgabe gründet auf dem Legislaturziel «L’église - c’est vous», das besagt, dass die Kirche grundsätzlich partizipativ aufgebaut ist. Alle sind zum Mitdenken, Mitmachen und Mitreden eingeladen. Hier haben wir Aufholbedarf. Das Mitwirken der Basis ist nicht mehr einfach so gegeben.

Meine Aufgabe ist es, die Menschen, die in den Kirchgemeinden arbeiten, wie Pfarrpersonen, Sozialdiakon*innen und Kirchgemeinderät*innen, bei der partizipativen Arbeit mit den Gemeindemitgliedern zu unterstützen. Dies geschieht durch Beratung, Coaching, Prozessbegleitung und einem Kursangebot. Mein Prinzip ist: Wer partizipativ unterwegs ist, ist immer auch lernend unterwegs. Selten ist jemand allein Expert*in, es ist oft eine Lerngemeinschaft.

Marlise Graf
Marlise Graf ist Fachbeauftragte Partizipative Gemeindeentwicklung bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Foto: refbejuso

Was ist aus Ihrer Sicht gelungene Partizipation?

Marlise Graf: Partizipation ist sehr vielfältig. Je mehr ich mit Partizipation zu tun habe, desto weniger benutze ich den Begriff. Ich benenne eher konkret, was tatsächlich passiert und getan wird. Gelungene Partizipation ist, wenn sich Menschen einbringen, mitgestalten und Einfluss nehmen. Wenn sie bei den Beteiligten ein gutes Gefühl auslöst und sie sich wahrgenommen fühlen. Das kann sowohl im Kleinen wie im grossen Rahmen stattfinden.


Die Kirchgemeinde Bolligen lancierte im März vor zwei Jahren eine erfolgreiche partizipative Fastenkampagne mit dem Thema Klimagerechtigkeit. Durch die Covid-19-Pandemie war vieles nicht möglich und der Pfarrerin fehlten die Ideen. Deshalb sprach sie Menschen und Organisationen im Dorf an, die sich für das Thema interessierten und brachte sie an einen Tisch. In der Diskussion entstand dann die Idee, einen sogenannten «Klimatrail» zu organisieren. In einem zweiten Schritt wurde bei allen Haushalten nachgefragt, wer im Kleinen etwas für das Klima tut und bereit ist, bei sich zu Hause einen Posten einzurichten. Daraufhin meldeten sich 30 Parteien. Eine Bauernfamilie hat zum Beispiel einen Stand gemacht zum Thema Bodenbearbeitung und Diversität. Eine Schulklasse drehte Videos, die auf einem Monitor in der Schule gezeigt wurden. Die Spazierstrecke konnte jederzeit besichtigt werden und es fanden immer wieder Veranstaltungen statt, bei denen Freiwillige mithalfen. Dieses Beispiel zeigt die ganze Bandbreite der Partizipationsmöglichkeiten. Die Kirche hatte eine Drehscheibenfunktion, die Dorfbevölkerung hat mitgewirkt.

Es braucht Mut und Offenheit, das Zepter aus der Hand zu geben.

Marlise Graf

Was sind aus Ihrer Erfahrung die grössten Stolpersteine bei partizipativen Prozessen?

Marlise Graf: Der grösste Stolperstein – da sind sich auch die Fachleute einig – sind alle möglichen Formen von Scheinpartizipation. Es besteht immer die Gefahr, dass Partizipation versprochen wird, ohne vorab genau zu klären, was überhaupt möglich ist. Das kann zu Enttäuschungen führen. Ich stelle fest, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen über Partizipation gibt. Im Wort stecken viele Bedeutungen, auch Hoffnungen. Oft wird nicht klar kommuniziert, worum es eigentlich geht. Mir begegnet manchmal die Vorstellung, dass die Leute darauf warten würden, sich beteiligen zu können, oder die Vorstellung, dass man mit Partizipation etwas retten kann, was nicht mehr gut funktioniert.

In den Kirchgemeinden wird Partizipation vor allem in der Umsetzung von Angeboten oder Projekten verortet. Freiwillige übernehmen da oft selbständige und verantwortungsvolle Aufgaben. Doch wenn wir etwas verändern oder neu entwickeln wollen, so liegt aus meiner Sicht die grösste Kraft der Partizipation bei der Entwicklung von Ideen. Man geht zurück an den Anfang und bezieht Menschen aus der Zielgruppe mit ein. Das ist nicht immer einfach, denn es bedeutet auch, Kontrolle abzugeben. Da die Fachkräfte in den gegebenen Strukturen Verantwortung tragen, ist das sehr schwierig. Es braucht Mut und Offenheit, das Zepter aus der Hand zu geben.

Hindernisse können sich bereits in der Vorphase der Ideensammlung, der Bedarfsermittlung, ergeben. Nämlich dann, wenn aus den Bedürfnissen der Menschen eine Idee entstehen soll. Es ist wichtig, neue Leute und vor allem Leute aus der Zielgruppe ins Boot zu holen. Von anonymen Befragungen rate ich persönlich eher ab, ausser man macht es sehr konkret, also eher kleine, überschaubare Zielgruppenbefragungen. Aber um die Bedürfnisse und den Puls der Menschen zu spüren, braucht es den Kontakt, die Begegnung und etwas Konkretes.

In Ihren Workshops empfehlen Sie für partizipative Projekte die Design-Thinking-Methode. Warum?

Marlise Graf: Ein Prinzip des Design Thinking ist die konsequente Ausrichtung nach der Zielgruppe. Ein Design-Thinking-Team entwickelt ein Produkt in mehreren Läufen, immer mit Feedback von den Kund*innen. Die Methode hat einen partizipativen Ansatz, der noch verstärkt werden kann. Im gemeinsamen Tun und Entwickeln entstehen Begegnungen und eine Gemeinschaft. Dieser Aspekt kann sogar wichtiger werden als das eigentliche Endprodukt.

Ein weiteres Prinzip des Design Thinking ist die Zieloffenheit. Ideen bleiben Ideen und werden nicht schon zum festen Ziel. Erst wenn man auf Resonanz stösst, wird weitergetüftelt. Wenn man die Zieloffenheit beibehält, kann man sogar von der ursprünglichen Idee abweichen. Das erlebe ich gerade bei einer Gruppe, die ich begleite: Die ursprüngliche Idee eines Quartierraums wurde nach Feedback von möglichen Nutzer*innen wieder verworfen und nun entsteht etwas Neues, das auf die Bedürfnisse der Zielgruppe abgestimmt ist.

Um die Bedürfnisse und den Puls der Menschen zu spüren, braucht es den Kontakt, die Begegnung und etwas Konkretes.

Marlise Graf

Welche drei Tipps haben Sie für Gruppen, die sich partizipativ organisieren möchten?

Marlise Graf: Es braucht ein Anliegen, das die Zielgruppe beschäftigt, interessiert, bewegt und betrifft. Dann braucht es ein Team, das grösser zu denken ist als ein Arbeitsteam. Es besteht aus verschiedenen Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise und gerne mit dem Thema befassen. Man benötigt eine offene und ehrliche Kommunikation sowie Ergebnisoffenheit. Wenn ein Rahmen vorgegeben ist, muss er auch kommuniziert werden: Lieber zu wenig Partizipation versprechen als zu viel. Und letztlich ist die Frage nach dem Sinn zentral: Wenn man ergebnisoffen arbeitet, ist die Sinnfrage ein Kompass. In einer Organisation wie der Kirche, die auch ein wenig um ihre Identität ringt, ist es umso wichtiger zu fragen, warum man etwas tut. Diese Sinnfrage ist wohl nicht nur in der kirchlichen Gemeindearbeit wichtig, sondern auch in anderen sozialen Kontexten wie dem Gesundheitswesen.

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