Unterstützung zwischen Gleichen: Was Peer-Arbeit in psychiatrischen Angeboten bewirkt

22.09.2023 2009 wurde die erste Peer-Mitarbeiterin in einer Schweizer Psychiatrie angestellt. Knapp 16 Jahre später sind es 125 Expert*innen aus Erfahrung, die mit ihrer eigenen Genesungserfahrung andere Menschen mit psychischen Problemen begleiten. Welche Vorteile hat Peer-Arbeit und was braucht es für die Implementierung in der eigenen Institution?

Bei der Peer-Arbeit unterstützen Menschen mit eigener Krankheits-, Krisen- und Genesungserfahrung bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen. Als eine Unterstützung «zwischen Gleichen» wird sie in internationalen und nationalen Positionspapieren und Behandlungsleitlinien gefordert (u. a. World Health Organization WHO, 2017). Die erste Peer-Mitarbeiterin in einer Psychiatrie wurde in der Schweiz im Jahr 2009 angestellt. Mittlerweile sind viele weitere dazu gekommen – auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass Peer-Arbeit in den Psychiatrien der Schweiz flächendeckend umgesetzt wird. Aus einer Umfrage geht hervor, dass 2017 in der Deutschschweiz rund 125 Peer-Mitarbeitende in der Psychiatrie tätig waren, mit einem durchschnittlichen Beschäftigungsgrad von 35 Prozent (Burr et al., 2021). 

Grafik mit Balken: Welche Aufgaben übernehmen die Peers bei der Betreuung von psychisch Kranken?
Vermitteln von Zuversicht, Empowerment und Symptom- und Krankheitsmanagement sind u. a. Aufgaben von Peers bei der Begleitung von psychisch Erkrankten. (Grafik: Burr et al., 2021)

Vermitteln von Zuversicht und Anti-Stigma-Arbeit

Die Peers nannten folgende Arbeitsinhalte und Themen am häufigsten: Vermitteln von Zuversicht, Empowerment, Symptom- und Krankheitsmanagement, Anti-Stigma-Arbeit oder das Brückenbauen zwischen Fachpersonen und Betroffenen (siehe Abbildung). Studien zur Wirksamkeit deuten insbesondere auf einen Vorteil der Peer-Arbeit bezüglich der Stärkung von persönlichen Recovery-Prozessen, Hoffnung sowie Empowerment hin und weniger auf Symptomreduktion, Reduktion von stationären Wiederaufnahmen oder Aufenthaltsdauer (u. a. Lyons et al., 2021). 

Im deutschsprachigen Raum hat sich die Weiterbildung Experienced-Involvement (EX-IN; siehe auch Verein EX-IN Schweiz) als Qualifikation für die Ausübung der Peer-Tätigkeit in der Psychiatrie etabliert. In der knapp 40-tägigen Weiterbildung geht es darum, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren, diese durch die Erfahrungen der anderen Kursteilnehmenden zu kollektivem Erfahrungswissen zu transformieren und Beratungs- und Unterstützungskompetenzen im Einzel- und Gruppensetting zu entwickeln. 

Grafik Kreise: In welchen Schwerpunktgebieten arbeiten die Peers bei der Begleitung von Psychisch Kranken?
Am meisten konfrontiert sehen sich die Peers mit Psychosen und affektiven Erkrankungen. (Grafik in Anlehnung an Burr et al., 2021)

Empfehlungen für Anstellung von Peers

Für die Anstellung von Peers gibt es differenzierte Empfehlungen. Neben einer klaren Stellenbeschreibung scheint eine gute Vorbereitung der Institution auf die Themen Recovery und Peer-Arbeit besonders wichtig. Zentral sind auch die Anstellung von mehr als einer Person pro Institution für einen guten Austausch, das Angebot von Supervision für die Peer-Mitarbeitenden sowie ein fest eingeplanter, regelmässiger Austausch zwischen Leitungspersonen, den Fachpersonen und Peer-Mitarbeitenden (Verein PRIKOP et al., 2020). 

Mittlerweile ist die Peer-Arbeit aus dem Fachdiskurs und der Praxis in der Psychiatrie nicht mehr wegzudenken. Dennoch gibt es noch viele Angebote, in denen Peer-Arbeit noch wenig umgesetzt wird. So beispielsweise in der ambulanten Behandlung und Betreuung, in psychosozialen Unterstützungsangeboten, aber auch in herkömmlichen Kliniken. Neben anderen Herausforderungen scheint die Finanzierung eine grosse Hürde zu sein – vor allem im nicht-spitalambulanten Bereich, weil sie dort noch nicht geregelt ist. Die Akzeptanz und das Wissen über Peer-Arbeit sind in den Pflege- und Sozialberufen am stärksten ausgeprägt. Insbesondere in der Medizin ist die Skepsis noch gross, was sicherlich auch mit der Entstehungsgeschichte der Peer-Arbeit (siehe Kasten: Peer-Arbeit: «Nothing about us without us»), der Kritik an der medizinischen Psychiatrie sowie den hierarchischen Strukturen im System zusammenhängt. 
 

Peer-Arbeit: «Nothing about us without us»

Peer-Arbeit: «Nothing about us without us»

Die Peer-Arbeit hat ihren Ursprung in der Recovery-Bewegung, die Ende der 1960er-Jahre in den USA Fahrt aufnahm und sich später auf andere Länder der Welt ausbreitete. Sie entstand aus der Unzufriedenheit von Menschen mit psychischen Problemen und ihren Angehörigen mit dem psychiatrischen Hilfesystem. Die Kritik bezog sich insbesondere auf eine zu starke Ausrichtung der Angebote am medizinischen Modell sowie auf eine starke Hierarchisierung im System und die damit einhergehende fehlende Partizipation bei der Unterstützung und Behandlung sowie bei der Weiterentwicklung der Angebote. Der Slogan «Nothing about us without us» zeigt den Kern des Anliegens der Bewegung und auch die Nähe zu anderen Bürgerrechtsbewegungen. Recovery stellt eine Alternative zu dem stark auf Symptomreduktion fokussierten medizinischen Verständnis von Genesung dar und betont einerseits den Prozess und andererseits Aspekte wie Verbundenheit, Hoffnung, Identität, Bedeutung, Sinnhaftigkeit und Empowerment im Kontext von Genesung (Leamy et al., 2011). Im deutschsprachigen Raum und somit auch in der Schweiz fand Recovery ab 2005 Eingang in den Fachdiskurs.

Literatur

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