Ungleichheit, Armut und Wohlfahrtsstaat

Die BFH erarbeitet gemeinsam mit Partner*innen Grundlagen und Lösungsvorschläge zu den Themen Ungleichheit, Armut und Wirksamkeit von wohlfahrtstaatlichen Instrumenten in der Schweiz.

Steckbrief

Ausgangslage

Globalisierung, Digitalisierung und Krisen verändern die Armutsrisiken und beeinflussen die Höhe und Verteilung der Einkommen global und in der Schweiz. Dazu kommt die Frage, ob und unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmass die bestehenden Instrumente des demokratischen Wohlfahrtsstaates einen Ausgleich schaffen und die Lage der Ärmsten verbessern. Die BFH geht diesen für die Armutsbekämpfung relevanten Phänomenen in mehreren Forschungsprojekten nach. Ihr Ziel ist es, für die Schweiz eine solide Faktenlage zu Ungleichheit, Armut und dem Wohlfahrtsstaat zu erarbeiten und damit die Basis zur Beobachtung der Entwicklung der finanziellen Situation der Bevölkerung zu legen, die für Entscheide von Behörden und Politik zur Armutsbekämpfung genutzt werden kann. 

Ziele

Folgende Forschungsfragen stehen im Zentrum:

  • Wie ungleich sind die wirtschaftlichen Ressourcen in der Schweiz verteilt?
  • Wie verbreitet ist Armut? 
  • Was sind die Armutsrisiken? Wie ändern sich diese als Folge des sozialen Wandels?
  • Wie wirksam sind die wohlfahrtsstaatlichen Instrumente zur Verringerung von Ungleichheit und Armut?

Vorgehen

Die laufenden Forschungsprojekte stützen sich auf die Verknüpfung kantonaler Steuerdaten mit anderen Administrativ- und Umfragedaten. Basierend auf dieser Datenbasis konzipieren wir aussagekräftige Indikatoren. Auf diese Weise schaffen wir eine neue Grundlage für die Untersuchung der wirtschaftlichen Ungleichheit und Armut in der Schweiz. Diese Grundlage behebt die Defizite bisheriger Ansätze und eröffnet neue Möglichkeiten zur Untersuchung alter und neuer Forschungsfragen.

Ungleichheit symbolisiert mit einem ungleichen Paar Schuhe, einmal reich und einmal arm.

Projekt Armutsmonitoring - das Instrument gegen Armut

Laut offiziellen Statistiken leben in der Schweiz rund 660’000 Menschen in Armut. Sie alle erreichen das soziale Existenzminimum mit ihren Einkünften nicht. Damit armutsbetroffene Menschen passende Unterstützung erhalten, ist eine systematische Beobachtung der Armutssituation entscheidend. In der Armutspolitik spielen die Kantone eine entscheidende Rolle, weshalb sich die Instrumente in der Armutsbekämpfung stark unterscheiden. Einige Kantone erstellen Sozial- oder Armutsberichte, allerdings oft unregelmässig und unter Einbezug eigens konzipierter Indikatoren. Andere Kantone fokussieren auf bezogene Sozialleistungen und vernachlässigen, dass Armut breiter gefasst werden sollte. In gewissen Kantonen ist die Armutssituation gänzlich unbekannt. Diese Ausgangslage führt dazu, dass die Daten kaum zu vergleichen sind. Es besteht ein fragmentiertes Bild, das eine zielgerichtete Armutspolitik erschwert.

Die Möglichkeiten zur Armutsbeobachtung haben sich dank technologischer Fortschritte in der Datenverarbeitung erheblich verbessert. Administrativdaten können heute für die Armutsforschung genutzt werden. Eine wichtige Grundlage bilden Steuerdaten, die mit weiteren Administrativdaten zu bedarfsabhängigen Leistungen sowie mit Registerdaten zur Wohn- und Haushaltssituation verknüpft werden. Anhand dieser verknüpften Daten kann die finanzielle Situation der Bevölkerung detailliert beschrieben werden. Die im Rahmen staatlicher Aufgaben laufend erstellten Administrativdaten sind unkompliziert für das Armutsmonitoring nutzbar. Allerdings muss bestimmt werden, welche Methoden und Konzepte zur Berechnung von steuerungsrelevanten Indikatoren verwendet werden. Diesbezüglich bietet ein Modellvorschlag der BFH und von Caritas Schweiz Hand. Sie haben unter Einbezug des nationalen und internationalen Forschungsstandes Grundlagen erarbeitet, die es den Kantonen erlauben, auf einfache Art ein systematisches Armutsmonitoring zu erstellen, um wichtige Erkenntnisse zur kantonalen Situation zu erlangen. 

Armutspolitik muss am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung bleiben. Eine deutliche Verbesserung der lückenhaften Armutsbeobachtung in der Schweiz wäre erreichbar, wenn die Kantone bestehende Datenbanken einheitlich nutzen würden. Mithilfe des Modells der BFH und der Caritas kann erstmals ein flächendeckendes Armutsmonitoring erstellt werden, das der föderalistischen Struktur der Schweiz Rechnung trägt. 

Ungleichheit und Armut in der Schweiz

Fragen der sozialen Ungleichheit haben in den letzten Jahren zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Einige sehen politische Ereignisse wie den BREXIT, die US-Präsidentschaftswahlen 2016 und die Stärkung der rechtspopulistischen deutschen Partei AfD als Folge der zunehmenden wirtschaftlichen Ungleichheiten und des Mangels an funktionierenden demokratischen Mitteln, um ihnen entgegenzuwirken. Auch der Bestseller des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty hat das Bewusstsein für Ungleichheit geschärft. Auf der Grundlage einer historischen Analyse von Steuerdaten entwickelte Piketty das Argument, dass der Kapitalismus eine Tendenz zu wachsender Ungleichheit hat. Pikettys historische Forschung wurde nicht zuletzt durch die Tatsache untermauert, dass in den letzten Jahrzehnten eine Zunahme der Einkommensungleichheit beobachtet wurde, insbesondere im angloamerikanischen Raum. Dies wird oft im Zusammenhang mit dem technologischen Wandel gesehen, der zu drastischen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen führt.

Das BFH-Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Universität Bern zeigt die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen in der Schweiz auf. Es geht zudem der Frage nach, ob der technologische Wandel zwangsläufig die Ungleichheit vergrössert.

Das Projekt zeigt, dass sozialwissenschaftliche Forschung zum Verständnis der erwähnten aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen beitragen kann, indem sie aufzeigt, inwieweit Ungleichheiten bestehen, wie sie sich verändern und welche Faktoren beim Wandel eine Rolle spielen. Auf der Projektwebsite werden neue Ergebnisse einem interessierten Publikum laufend zugänglich gemacht.

Nichtbezug von Sozialleistungen und die Grenzen des Wohlfahrtsstaates

Für Haushalte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen stehen in der Schweiz Bedarfsleistungen zur Verfügung, welche bestehende Einkommen ergänzen oder vollumfänglich der Finanzierung des Lebensunterhaltes dienen. Dazu gehören Ergänzungsleistungen für Rentnerinnen und Rentner, die wirtschaftliche Sozialhilfe oder individuelle Prämienverbilligungen. Ob diese Leistungen von allen Berechtigten bezogen werden, ist in der Regel aber nicht bekannt.

Die BFH hat dazu ein Modell entwickelt, mit dessen Hilfe abgeschätzt werden kann, wie verbreitet der Nichtbezug von Sozialleistungen ist. Mittels Steuerdaten, die mit Bevölkerung- und Sozialleistungsregister verknüpft sind, lässt sich für die gesamte Bevölkerung abschätzen, ob auf Grund der finanziellen Situation ein Anspruch auf Sozialleistungen geltend gemacht werden könnte. Die rechnerisch ermittelten Anspruchsberechtigten lassen sich danach mit dem tatsächlichen Sozialleistungsbezug abgleichen. Dieses Modell kam bisher in den Kantonen Bern und Basel-Stadt zur Anwendung, lässt sich aber auf andere Kantone übertragen.

Wir beraten Sie gerne, wenn Sie überprüfen möchten, ob die Sozialleistungen in ihrem Kanton die Zielgruppe erreicht.

Bisherige Forschung zum Thema ergab, dass rund ein Viertel der Berechtigten keine Leistungen beziehen. Dabei bestehen grosse regionale Unterschiede zwischen Stadt und Land. In ländlichen Gebieten ist der Nichtbezug verbreiteter. Es gibt Hinweise, dass dies auf die fehlende Anonymität und auf die unterschiedliche Akzeptanz von Sozialleistungen in der Bevölkerung zurückzuführen ist. Der Nichtbezug von Sozialleistungen tritt dabei sowohl bei Schweizerinnen und Schweizern als auch bei der ausländischen Wohnbevölkerung auf. Als besondere Risikogruppe gelten allerdings Menschen ohne Niederlassungsbewilligung, da in den letzten Jahren eine Verschärfung des Ausländerrechtes stattfand. Wer über einen längeren Zeitraum Sozialhilfe bezieht, riskiert ausgewiesen zu werden. Dies erhöht die Hürde, um finanzielle Hilfe zu ersuchen.

Dieses Projekt leistet einen Beitrag zu den folgenden SDGs