Episode 15: «Diese Entgrenzung und den Technostress können wir nicht aushalten»
Was wäre, wenn wir Ärger in einem Meeting rauslassen könnten und unser Ruhebedürfnis im Unternehmen ernst genommen würde? Gefühle am Arbeitsplatz sind wichtig für unsere mentale Gesundheit, aber oft unerwünscht. Das muss sich ändern, sagt Sabrina Schell, Professorin am Institut New Work der BFH Wirtschaft für neue Arbeits- und Organisationsformen.
Beim Thema New Work fallen auch Begriffe wie «Entgrenzung» und «Selbstausbeutung». In Büros mit Tischfussball und Sofas machen die Angestellten freiwillig Überstunden. Wie wirken sich die Entgrenzung und die überdurchschnittliche Nutzung von Technologie auf Menschen aus?
Sabrina Schell: New Work ist, wenn die Arbeit uns mehr gibt, als sie nimmt. Was bedeutet das? Wir kennen alle Arbeitstage, wo wir vier, fünf Stunden gearbeitet haben, von Meeting zu Meeting gelaufen sind, erschöpft sind und nur noch auf die Couch wollen. Aber es gibt auch Tage, an denen wir neun Stunden im Büro waren, zwischendurch im Flow, und kommen abends nach Hause und sagen «Ja, ich bin fit, ich habe Lust auf meine Familie, auf meine Freunde. Mir geht es gut.» Ich will nicht sagen, dass wir so lange arbeiten sollten, aber dass wir eine Arbeit finden, wo wir uns öfter genauso fühlen. In einer kapitalistischen Welt, kann man sagen; «Ist doch super - die Leute sind jetzt 24/7 erreichbar, können immer von überall arbeiten. Deswegen können wir morgens um 6 Uhr und abends um 22 Uhr noch ein Meeting machen.» Aber das ist natürlich Unsinn, weil das den Menschen, um den es ja gehen soll in der neuen Arbeitswelt, mit seiner Ganzheitlichkeit ignoriert. Wir wissen zum Beispiel aus der Neuropsychologie, dass wir uns nur ungefähr drei Stunden pro Tag, richtig konzentrieren können.
Das ist nicht sehr viel.
Nein und man kann sich überlegen, wieviel Sinn es macht, zehn Stunden drauf zu legen. Und die Frage ist auch, wenn wir müde sind und keinen Schlaf haben, ob dann überhaupt noch drei Stunden konzentrierter Arbeit möglich sind. Wenn ich das Ganze kapitalistisch dermassen ausnutze, hat das wenig mit New Work zu tun. Als Mensch brauche ich Ruhephasen, als Mensch muss ich wieder auftanken können, als Mensch muss ich ganzheitlich gesehen werden. Ich habe mir dazu die aktuellen Zahlen angeschaut. Wir sehen in der Schweiz steigende Depressionsraten, steigende Burnout-Raten, steigende Krankheitstage, wahrscheinlich auch wegen Corona und Co., aber auch wegen der «Entgrenzung» und dem massiven Techno-Stress. Überall «Bing, Bing, Bing», überall sind wir erreichbar und sollen immer Online sein. Das kann der Mensch gar nicht aushalten. Studien zeigen ganz klar, dass das Einzel- maximal das Zweierbüro gegenüber den Grossraumbüros gewinnen. Aber was machen viele Unternehmen: Hippe Grossraumbüros! Da wird die New Work Bewegung benutzt, um das System weiter anzutreiben. Es hat nichts mit der ursprünglichen Idee zu tun, den Menschen zu stärken.
Was müsste stattdessen passieren?
Für New Work brauchen wir neue Führungsfunktionen und Menschen, die die Idee verstehen und eine Haltung haben. Was ich da sehr empfehle, ist die Forschung von Reneé Brown. Das ist eine amerikanische Soziologin, Wissenschaftlerin, und sie sagt: «Mutige Führungskräfte stellen sicher, dass Menschen sie selbst sein können und einen Sense of Belonging fühlen.» Also eine Zugehörigkeit. Wenn ich aber ich selbst sein soll, dann muss ich auf der Arbeit auch mal sagen dürfen, dass ich heute einen schlechten Tag habe. Oder dass ich eine Pause brauche. Und darum geht es. Wir müssen auch Menschen ermöglichen, sich selbst zu schützen oder sie sogar manchmal vor sich selbst schützen.
Wie können Unternehmen fördern, dass die Menschen bzw. ihre Gefühle eine stärkere Rolle spielen?
Zum einen, indem ich mit meinen Angestellten spreche. «Wie geht es dir eigentlich? Was brauchst du, um gut arbeiten zu können?» Da werden die Wenigsten das Grossraumbüro nennen. Wir sehen mittlerweile Unternehmen, die zum Beispiel Grenzen setzen und dass man von abends 22 Uhr bis morgens 6 Uhr keine E-Mails mehr über die Server schicken kann. Das ist einfach verboten, weil sie sagen, dass ihre Menschen Schlaf brauchen. Wir sehen, dass Unternehmen anfangen, sogenannte Wuträume zu schaffen. Also Räume, und zwar nicht im Sinne von Raum, auf einen Boxsack hauen, sondern Kommunikationsräume in Meetings, wo Leute einfach mal ihre Wut rauslassen und sagen können, dass das hier nicht gut läuft. Und wir sind alle mal wütend.
Wie geht das?
Es geht um Wutraum im Sinne von «clear the air»-Meetings oder, dass Menschen sagen können, dass sie etwas nicht in Ordnung finden - auch vehement - dass sie ihre Gefühle rauslassen können. Denn Gefühle werden wichtiger im Arbeitskontext, weil die steigenden Depressions- und Burnout-Raten sowie Krankheitstage damit verbunden sind, dass wir unsere Gefühle ständig wegdrücken müssen. Es gibt Organisationen, die sich genau damit beschäftigen, was die Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen sind, wie die vielleicht auch produktiv genutzt werden können. Es ist ja kein Selbstzweck. Natürlich müssen Organisationen funktionieren und wirtschaftlich sein. Wie können wir dann eine gute Arbeitsumgebung schaffen? Eine gute Arbeitsumgebung bedeutet auch, dass Menschen wesentlich produktiver arbeiten, und das ist für Organisationen auch ein Gewinn.