Episode 9: «Chancengleichheit ist kein sozialpolitisches Anliegen, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit»
Drei Frauen aus der Politik, denen es am Herzen liegt, dass es mehr weiblich geführte Start-ups gibt: in der 9. Episode sprechen wir mit Aline Trede, Nationalrätin für die Grünen, Claudine Esseiva, Ständerätin für die FDP und Ingrid Kissling, Direktorin der BFH Wirtschaft und Vertreterin der SP im Berner Stadtrat.
In der letzten Episode haben wir über die Ergebnisse der Gründerinnen-Studie der BFH gesprochen. Ingrid, du hast darin zusammen mit deinen Co-Autor*innen Handlungsfelder aufgedeckt, wo es Verbesserungen am dringendsten braucht. Eines ist die Finanzierung. Wie kann Gender Budgeting helfen?
Ingrid Kissling: Aktuell fördern Innosuisse, der Schweizerische Nationalfonds, aber auch be-advanced, das ist die kantonale Förderorganisation in Bern vor allem technologie- und wachstumsorientierte Unternehmen. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man, dass dabei massgeblich Start-Ups von Männern profitieren und Frauen weniger Zugang zu diesen Fördermitteln haben. Mit dem Gender Budgeting sollen die Förderleistungen ausgewogen an beide Geschlechter verteilt werden.
Das heisst Frauen gründen weniger technologie- und wachstumsorientierte Start-ups, was für Firmen gründen sie stattdessen?
Ingrid Kissling: Frauen haben eine andere Art, Unternehmen zu gründen. Sie gründen entweder direkt nach der Dissertation und dann genauso technologie- und wachstumsorientiert. Oder aber sie gründen, wie der überwiegende Teil der Frauen später, in der mittleren Lebensphase. Sie möchten nicht vorrangig Profit sondern auch einen Impact erzielen – also eine gesellschaftliche oder nachhaltige Veränderung. Das bestätigen u.a. auch Venture Capitalists. Kürzlich war ich auf einer Tagung der nationalen Organisation für Social Businesses und dort war mehr als die Hälfte der Teilnehmer*innen Frauen.
Warum braucht es denn eigentlich mehr impact orientierte Unternehmen?
Ingrid Kissling: Das ist eine zentrale Frage. Frauen studieren, haben einen Lehrabschluss, gute Ausbildungen und entscheiden sich dennoch zurück in die Familie zu gehen und Care-Arbeit zu machen. Ist das volkswirtschaftlich gesprochen nicht ein unglaublicher Loss, kreatives Potential, das da verloren geht? Gleichzeitig stehen wir vor einem Fachkräftemangel und können uns das als Volkswirtschaft gar nicht erlauben. Zudem denken und sehen Frauen Dinge anders. Daher ist es wichtig, dass sie die Wirtschaft mitgestalten, Produkte und Dienstleistungen entwickeln, kreatives Potential einbringen und so beispielsweise auf die Bedürfnisse der Konsumentinnen reagieren. Technologiebasierte Unternehmen von Männern decken nur die männliche Sicht ab, aber es braucht auch die der Frauen. Wir sind darauf angewiesen, dass kompetente Frauen in der Wirtschaft mitarbeiten. Wir brauchen diese Frauen, um diese Transformation in eine nachhaltigere und sozialere Gesellschaft und Wirtschaft zu schaffen.
Claudine Esseiva: Wenn ich dort gleich anknüpfen kann. Für mich ist Chancengleichheit kein sozialpolitisches Anliegen, sondern eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit. Es geht um den Standort Schweiz. Wir können uns das schlicht nicht erlauben, dass wir in unserem Land Frauen haben, die gerne arbeiten wollen, es aber nicht können, weil die Kinderbetreuung fehlt, weil das Steuersystem falsch ist oder die Anreize völlig falsch gesetzt sind. Dort müssen wir ansetzen und darüber besteht mittlerweile parteiübergreifend Konsens. Das ist kein sozialpolitisches, linkes Thema, sondern Wirtschaftspolitik. Ich erinnere mich an ein eindrückliches Votum vom schwedischen Botschafter, der sagte: «Ihr in der Schweiz habt in den 60er-Jahren in italienische Gastarbeiter*innen investiert, wir haben in die Frauen investiert.» Die Schweiz muss also in die Frauen investieren und zwar massiv.
Ein weiteres Handlungsfeld ist auch das Netzwerk. Claudine, du engagierst dich bei den Business and Professional Women Schweiz (BPW). Decken sich denn die Forschungsergebnisse mit dem, was du dort hörst?
Claudine Esseiva: Absolut. Für Frauen ist eine Unternehmensgründung wirklich eine grosse Überwindung. Es braucht viel Mut, seine Firma zu gründen. Bei BPW können sich die Frauen vernetzen, gegenseitig Mut zusprechen und voneinander lernen. Zudem haben wir eine grosse Diversität: wir haben Inhaberinnen von Unternehmen im Coaching, in der Gastronomie oder auch technologiebasiert, im Handwerk und im Ingenieurwesen. Es ist wichtig für potenzielle Gründerinnen, dass sie die MINT-Bereiche auch immer als Möglichkeit mitdenken. Umso wichtiger ist es, zum einen die Frauen da zu empowern und zum andern die entsprechenden Rolemodels nach vorne, auf eine Bühne zu stellen. Das ist schon für Schülerinnen wichtig, dass sie sehen: «Aha, eine Frau führt ein IT-Unternehmen, dann kann ich das auch». Wir von BPW versuchen in diesen kleinen Schritten die gesellschaftliche Haltung von Frauen zum Wirtschaftsunternehmertum zu verändern.
Welche Erfahrungen hast du selbst bei der Unternehmensgründung gesammelt?
Claudine Esseiva: Ich habe meine Agentur in Fribourg mit männlichen Kollegen gegründet. Im Alltag und auch in der Arbeitswelt sind die Geschlechterrollen immer noch stark verankert. Zum Beispiel warum und wie man über Geld spricht oder wie man sich vernetzt. Meine Kollegen etwa haben gesagt: „Wir sind eine Männergruppe, wir treffen uns einmal im Jahr und rauchen Zigarren, da passt Claudine nicht rein”. Das stimmt, ich passe da nicht rein. Aber genau diese Codes der alten, rein männlichen Welt funktionieren noch immer und halten sich hartnäckig. Sie sind für uns Frauen zum Teil nur schwer zu durchbrechen.
Aline, wie hast du die Gründung erlebt?
Aline Trede: Ich habe mir mit einer Weiterbildung den Mut und das Rüstzeug geholt und dann gegründet. Ich habe sehr gute Erfahrungen gemacht und bei meinen Angestellten immer auch auf Frauen gesetzt. Ich musste nie in eine Männerrunde mit Zigarren. Wir haben uns auf Digitalisierung im Campaigning spezialisiert. Da wurden wir von Beginn an ernst genommen, denn wir haben eine Nische ausgefüllt, die neu war. Die Reaktion war dann ungefähr: Okay, wir müssen mit ihnen arbeiten, ob es jetzt Frauen sind oder Männer.
Ihr habt unterschiedliche Parteizugehörigkeit und unterschiedliche Gremien, Ingrid auf kommunaler Ebene, Claudine im Ständerat und Aline im Nationalrat. Was könnt ihr politisch bewegen?
Claudine Esseiva: Man muss zuerst Fakten schaffen, um die Parlamentarier*innen überzeugen zu können und diese Studie ist ein wichtiger erster Schritt dazu. National und kantonal sind die Gremien mehrheitlich männlich und bürgerlich. In der Stadt Bern ist das etwas anders, da hat sich schon etwas verändert. Wir müssen vor allem die Männer überzeugen, dafür brauchen wir die Fakten: Wie viel wird investiert in Unternehmen, die von Frauen geführt werden und wie viel in Männer? Dann merken sie, da stimmt was nicht. Oder ihnen auch aufzeigen, was sind das für Arten von Unternehmen, die wir fördern? Ist es richtig nur Technologie zu fördern oder wäre es vielleicht sinnvoll, wertebasierte Unternehmen zu fördern?
Aline Trede: Das Terrain ist immer noch sehr ein schwieriges, aber wir haben jetzt fast vierzig Prozent Frauen im Nationalrat, das ist Rekord und man merkt es ganz klar in der Stimmung und auch in den Entscheidungen, dass eine Veränderung da ist. Aber Veränderung löst auch immer extreme Ängste und auch Aggressionen aus. Aber es sind zum Glück immer nur die gleichen, wenigen Kolleg*innen, die sich dagegen wehren. Es gibt mittlerweile bis in die SVP-Fraktion Parlamentarier*innen, die diese Themen unterstützen und wagen zuzustimmen. Wir versuchen möglichst überparteilich zusammenzuarbeiten. Beispielsweise kam die Individualbesteuerungsinitiative von den FDP-Frauen. Es sind praktisch alle Parteien dabei, ausser die SVP. Bei diesen Themen bringt das Links-Rechts-Denken nichts. Leider gibt es im Nationalrat bei einigen oft Ablehnung, wenn nur der Begriff Gender fällt, etwa beim Gender Budgeting. Das verstehen dann einige falsch, dabei ist damit ja nicht Kampf der Geschlechter gemeint. Ich wünsche mir, dass diese Diskussionen nicht mehr polemisch verlaufen.
Es klingt, als gebe es auf der kommunalen Ebene ein besseres Klima für das Thema?
Ingrid Kissling: Wenn man nur die Mehrheitsverhältnisse ansieht, dann ist die Stadt Bern mit rot-grün natürlich in einer sehr privilegierten Lage. Doch die Anliegen sind auch bürgerliche Anliegen: wir wollen eine funktionierende Volkswirtschaft, wir wollen Kompetenz, wir wollen Wettbewerbsfähigkeit und erkennen, dass Frauen einen massgeblichen Beitrag leisten können. Bildungspolitisch sehe ich den Hebel auf nationaler Ebene, wenn es um Unternehmertum geht, sind die kantonale und nationale Ebene gefragt. Der Hebel auf kommunaler Ebene ist eher im kleinen Rahmen, etwa bei Projekten zu sozialen Innovationen. Aber die grossen Stellschrauben wie Individualbesteuerung und steuerliche Anreize sind auf nationaler Ebene.
Dies ist eine gekürzte Version, das ganze Gespräch hören sie im Podcast.