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Schultersprechstunde: Neue Wege mit Advanced Practice
09.10.2024 Die Schultersprechstunde am Inselspital Bern setzt bei der Nachbehandlung von Patient*innen auf den Ansatz der Advanced Practice Physiotherapie (APP). Dabei übernehmen spezialisierte Physiotherapeut*innen Aufgaben, die traditionell Ärzt*innen vorbehalten sind. Eine Evaluation der BFH zeigt die Stärken und Herausforderungen des Modells auf.
Das Wichtigste in Kürze
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Die Advanced Practice Physiotherapie (APP) in der Schultersprechstunde des Inselspitals Bern steigert die Effizienz und Zufriedenheit der Patient*innen.
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Für den Erfolg der Rolle braucht es hohe Kompetenzen, Teamgeist und eine klare Aufgabenverteilung im interdisziplinären Setting.
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Eine enge Zusammenarbeit und kontinuierlicher Austausch zwischen Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen sind entscheidend, um Unsicherheiten zu reduzieren.
Es ist Dienstagvormittag, 9.30 Uhr. In der Ortho Poliklinik im Inselspital Bern empfängt Bettina Haupt-Bertschy, MSc Therapieexpertin und Teamleiterin «Schulter, Ellbogen und Sport», einen jungen Patienten zur Schultersprechstunde. Drei Wochen zuvor wurde er aufgrund einer Bankart-Fraktur an der Schulter operiert. Den sportlichen Mann plagen Schmerzen und Unsicherheiten bezüglich Wundheilung und wie er sich im Alltag bewegen darf. Sorgfältig untersucht sie die verletzte Schulter, nimmt sich Zeit für seine Fragen und klärt ihn auf, danach zieht sie die Fäden und bespricht mit ihm das weitere Vorgehen. Obwohl die geplante halbe Stunde längst verstrichen ist, bleibt sie gelassen und geduldig – eine Haltung, die den Patienten sichtlich beruhigt.
Erweiterte Aufgaben für Physiotherapeut*innen
Das Inselspital in Bern bietet mit seiner spezialisierten Schultersprechstunde ein beispielhaftes Modell für die Anwendung des Konzepts Advanced Practice (AP) in der Physiotherapie. Spezialisierte Physiotherapeut*innen übernehmen als Advanced-Practice-Physiotherapeut*innen (APP) erweiterte Aufgaben in der Nachsorge von Patient*innen nach Operationen an der oberen Extremität. Diese Aufgaben umfassen nicht nur die physiotherapeutische Betreuung, sondern auch Tätigkeiten, die traditionell dem medizinischen Fachpersonal vorbehalten sind, wie die Wundpflege und die standardisierte Überwachung der Schulterbeweglichkeit. Die BFH hat im Rahmen der Akademie-Praxis-Partnerschaft mit der Insel Gruppe das Angebot evaluiert, Art und Umfang der Tätigkeiten erfasst und den Bedarf bei Patient*innen sowie die Einschätzung des involvierten Gesundheitsfachpersonals abgeholt.
Strukturierte Nachsorge: Der Ablauf der Schultersprechstunde
Die Schultersprechstunde folgt einem klar strukturierten Nachsorgezyklus, der sich auf zwei entscheidende Zeitpunkte konzentriert. Drei Wochen nach der Operation findet die erste Nachsorge statt, die von den APP durchgeführt wird. In dieser Phase wird die Schulterbeweglichkeit überprüft, die Wundheilung kontrolliert und es werden allfällige Fäden gezogen. Auch werden Fragen geklärt bezüglich der Bewältigung des Alltags, der Medikamenteneinnahme und der Arbeitsfähigkeit. Sechs Wochen nach der Operation erfolgt eine interdisziplinäre Nachsorge, bei der Physiotherapeut*innen und Ärzt*innen gemeinsam die weitere Behandlung planen und überwachen. Dieses strukturierte Vorgehen stellt sicher, dass die Patient*innen kontinuierlich betreut werden und mögliche Komplikationen frühzeitig erkannt und behandelt werden können.
Erfolgreiche Evaluation: Hohe Patientenzufriedenheit und Effizienz
Die Evaluation der BFH hat die Wirksamkeit und Effizienz der Schultersprechstunde bestätigt. Die spezifischen Fachkenntnisse und die umfassenden personalen Kompetenzen der APP führten zu einer hohen Zufriedenheit bei den Patient*innen. Besonders geschätzt wurde die klare und verständliche Kommunikation der Physiotherapeut*innen, die den Patient*innen half, den Heilungsprozess besser zu verstehen und aktiv mitzugestalten.
Darüber hinaus zeigte die Evaluation, dass die erweiterte Rolle der APP nicht nur die Qualität der Nachsorge verbessert, sondern auch die Effizienz des gesamten Versorgungssystems erhöht. Durch die Entlastung des medizinischen Fachpersonals konnten Ressourcen gezielter eingesetzt werden.
Voraussetzungen für Erfolg: Kompetenz, Teamgeist und Loyalität
Für AP-Rollen setzt das Inselspital einen Ausbildungsstandard voraus: Sie müssen mindestens einen Master-Abschluss sowie fünf Jahre praktische Erfahrung in ihrem Fachbereich vorweisen. Gleichzeitig machen die befragten Gesundheitsfachpersonen deutlich, dass nebst Fachwissen und dem Beherrschen des klinischen Handlings auch die Selbsteinschätzung wichtig sei. Die eigenen Grenzen müsse man kennen und im Bedarfsfall sollte eine andere Fachperson einbezogen werden. Dies wiederum setze eine starke interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus, die am Inselspital geprägt sei von Teamgeist und Loyalität.
Professionsentwicklung in der Physiotherapie
Weitere BFH-Projekte zur Professionsentwicklung in der Physiotherapie
Neben der Schultersprechstunde am Inselspital untersucht die BFH weitere Projekte zur Professionsentwicklung in der Physiotherapie.
Advanced-Practice Physiotherapie im Notfallzentrum
Die Implementierung von Physiotherapie im Notfallzentrum eines Universitätsspitals in Bern ist bis anhin einzigartig in der Schweiz. Ziel des Forschungsprojekts ist es, die Tätigkeiten muskuloskelettaler Physiotherapeut*innen zu beschreiben, das Kompetenzprofil zu definieren und die AP-Rolle zu festigen.
Respiratory Therapists in der Neurologie
Immer mehr Patient*innen überleben schwerwiegende Traumata und neurologische Erkrankungen. Aus diesem Grund steigt der Bedarf an hochspezialisierten Respiratory Therapists in der Neurologie. Ziel des Forschungsprojekts ist es, die Kompetenzen im neurologischen Setting zu erfassen sowie Profil und Schnittstellen zu definieren. Des Weiteren untersucht das Projekt die interprofessionelle Zusammenarbeit im Team.
Mentale Gesundheit bei Zürcher Physiotherapeut*innen
Physiotherapeut*innen üben einen physisch sowie psychisch belastenden Beruf aus. Spätestens mit der Diskussion einer Tarifanpassung im Jahr 2023/2024 stellen sich viele Fragen zu den beruflichen Rahmenbedingungen. Die BFH untersucht mit der THIM (internationale Hochschule für Physiotherapie) die mentale Gesundheit von Zürcher Physiotherapeut*innen. Ziel ist es, Faktoren zu identifizieren, die die Attraktivität des Berufs erhöhen und die langfristige Arbeitsfähigkeit sichern.
Herausforderungen: Kompetenzverteilung und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Trotz der positiven Ergebnisse weist die Evaluation auch auf Herausforderungen hin. Ein zentrales Thema ist die Kompetenzverteilung zwischen Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen. Am Inselspital zeigte sich dies an einem Beispiel, bei der es um die Beurteilung von Röntgenbildern ging. Diese Aufgabe erachten die befragten Ärzt*innen als Aufgabe, die spezifische medizinische Kenntnisse erfordert und sehen sie eher bei sich angesiedelt. Diese Unsicherheiten verdeutlichen die Notwendigkeit, die Aufgabenverteilung im Unternehmen präzise zu regeln. Eine kontinuierliche Schulung und ein enger Austausch zwischen den Berufsgruppen sind weitere entscheidende Faktoren, um diese Herausforderungen zu meistern.
Bettina Haupt-Bertschy arbeitet seit 18 Jahren im Inselspital, seit 3 Jahren hat sie offiziell die Rolle der APP inne. Für sie ist klar: Die Vorteile der erweiterten Verantwortung überwiegen deutlich. «In den Kontrollen entspricht unsere Rolle im Prinzip der eines Assistenzarztes», erklärt sie, während sie den Spitalflur entlang zum nächsten Termin eilt. «Mich motiviert besonders, dass wir in dieser Teamstruktur enorm viel voneinander lernen. Die Interprofessionalität wird hier wirklich gelebt und ich erfahre grosse Wertschätzung, sowohl von den Patient*innen als auch von der Ärzteschaft», sagt sie. Als sie diesen Satz beendet, wird sie beim Vorbeigehen von einem Arzt um ihre Meinung bei einer Therapieentscheidung gebeten. Ein anderer Kollege hält an, um sie um eine schnelle Einschätzung zu bitten. Sie nickt beiden zu, entschuldigt sich und sagt beim Abschied strahlend: «Ich liebe diese Hektik im Spitalalltag.»
Arbeitswelt Gesundheitswesen im Fokus
Arbeiten im Gesundheitswesen bedeutet Arbeiten im Wandel. Wir veröffentlichen an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen mit Forschungsprojekten, die sich diesem Wandel annehmen. Sie setzen auf Organisations- und Teamebene, aber auch beim Individuum an.