Der Wald. Ein Refugium für die Vielfalt

04.09.2024 BFH und Biodiversität: Der Waldökologe Thibault Lachat erklärt anhand seiner Forschung, wie mehr Durcheinander im Wald die Artenvielfalt fördert. Die Berner Fachhochschule beleuchtet in loser Folge ihre Expertise zum Thema.

Thibault Lachat
«Totholz ist unabdingbar für die Artenvielfalt und für ein funktionierendes gesundes Ökosystem», sagt Thibault Lachat. (Bild: Mirella Wipf)

Das Wichtigste in Kürze

  • Unser Wald wurde lange intensiv genutzt, auch heute fehlt es vielerorts an Totholz.
  • Totholz ist unabdingbar für die Artenvielfalt im Wald, rund 6000 bis 8000 Pilze, Moose, Flechten, Käfer, Vögel, Fledermäuse sind darauf angewiesen.
  • Dieser Artikel ist Teil einer Serie der Berner Fachhochschule, die im Rahmen der Biodiversitätsinitiative ihre Expertise zum Thema beleuchtet.

Er mag es gern etwas chaotisch, unser Wald. Zwar sind die Schweizer Wälder grösstenteils naturnah bewirtschaftet und es geht ihnen besser als noch vor 100 Jahren. Dennoch unterscheiden sie sich stark von Urwäldern, wie Thibault Lachat, Professor für Waldökologie an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften BFH-HAFL erklärt: «Wegen intensiver Nutzung über Jahrhunderte, fehlen späte Entwicklungsphasen im Wald mit älteren, dicken, zerfallenden Bäumen und grösseren Totholzstücken.» Gerade abgestorbene Baumveteranen bieten zusammen mit liegendem Totholz vielen Arten ein Zuhause, Schutz oder Futter – den so genannten Xylobionten, den von und im Totholz lebenden Spezies.

Das sind nicht wenige: In der Schweiz sind mehr als 6000 bis 8000 Pilze, Moose, Flechten, Käfer, Vögel, Fledermäuse auf Alt- und Totholz angewiesen. Und haben teils spezielle Ansprüche, wie zum Beispiel der seltene, blau-schwarze Alpenbockkäfer, ein extravaganter Geselle mit langen Fühlern. «Das Weibchen legt seine Eier in totem Buchenholz ab, am liebsten in dickeren, gut besonnten Stämmen. Das heisst: Ohne solche Habitate, kein Alpenbock.» Thibault Lachat stellt nochmals klar, dass «Totholz unabdingbar für die Artenvielfalt im Wald und für ein funktionierendes gesundes Ökosystem ist».

Vogel, Käfer und Biodiversität

Das Forschungsteam rund um Thibault Lachat ist oft im Unterholz unterwegs und untersucht die Biodiversität im Wald. Romain Angeleri zum Beispiel beobachtete den Lebensraum des seltenen Weissrückenspechts. Die Vogelart war Anfang des 19. Jahrhunderts aus vielen Wäldern Europas verschwunden, heute ist er etwa in der Ostschweiz wieder anzutreffen, dank extensiverer Waldnutzung. Der Specht frisst am liebsten grosse Käferlarven, die sich in abgestorbenen, stehenden Bäumen entwickeln. Aufgrund dieses sehr ausgewählten Speisezettels konnte der Ökologe der BFH-HAFL zeigen, dass das Vorkommen des Weissrückenspecht direkt mit der Vielfalt von Totholzkäfern zusammenhängt: Angeleri fand im Habitat des Weissrückenspechts mehr seltene, bedrohte Arten als ausserhalb seines Habitats.
 

Alpenbockkäfer
Selten und anspruchsvoll: Der Alpenbockkäfer.

Nicht nur die Menge macht’s

Viel Totholz ist gut für die Artenvielfalt, aber auch die Verteilung scheint wichtig, wie kürzlich Elena Haeler und Thibault Lachat im Sihlwald in der Nähe von Zürich zeigten. Die Forschenden haben unterschiedlich grosse Astbündel an Bäume gehängt. Diese wurden von Käfern besiedelt und die Ergebnisse ein Jahr später zeigten: Je grösser das Astbündel, desto mehr Käferarten. Das war zu erwarten – nun das Erstaunliche: Die kleinen Astbündel im gleichen Gebiet beherbergten alle zusammen trotz insgesamt weniger Ästen genauso viele Arten wie das grösste Bündel. Offenbar scheint die Heterogenität der Mikrostandorte die Biodiversität ebenfalls zu beeinflussen, nicht nur die Menge an Holz.

Wie weiter? Von Dürren und Bränden …

Die ökologische Qualität der Wälder hat gemäss Publikation zur «Waldpolitik 2021–2024» des Bundes» zugenommen, auch der Anteil an Totholz ist gestiegen. Dennoch sind die Ziele «noch nicht in allen Waldbeständen erreicht, vor allem im Mittelland und Jura ist die Verteilung unbefriedigend», so der Bericht. Thibault Lachat unterstreicht: «Die Richtung stimmt, aber noch sind wir weit entfernt von naturnahen Wäldern. Viele Arten fehlen nach wie vor oder sind bedroht, etwa die Hälfte der Totholzkäfer.» Solche Käfer brauchen grosse Populationen, um weitere Wälder zu besiedeln. Es sei daher wichtig, Habitate für anspruchsvolle Arten zu schaffen.

«Die Richtung stimmt, aber noch sind wir weit entfernt von naturnahen Wäldern.»

Thibault Lachat Professor für Waldökologie an der BFH-HAFL

Ökologe Lachat zeigt weitere Möglichkeiten für mehr Biodiversität auf: in bewirtschafteten Wäldern einige Bäume sehr alt werden und stehen lassen, extreme Ereignisse wie Stürme, Dürren, Waldbrände als Chance nutzen, da sie Wälder rasch naturnah gestalten – falls die toten Bäume nicht geräumt werden. «So entstehen für einige Jahre richtige Biodiversitätshotspots.»

… und Kommunikation

Für mehr Biodiversität braucht es auch den Dialog. Dialog zwischen allen Interessensparteien, denn zwischen Waldwirtschaft und Biodiversitätsförderung entstehen gemäss Lachat schon auch Konflikte. Nachvollziehbar, denn die Ansprüche bestimmter Tier- und Pflanzenarten sind manchmal nur schwer mit der Waldbewirtschaftung vereinbar. Thibault Lachat ist aber überzeugt, dass sich zwischen Leistung des Ökosystems Wald und Biodiversität auch Synergien ergeben können. Solche Möglichkeiten will der Ökologe ausloten – zum Beispiel inwieweit Altholz-Strukturen in Schutzwälder integriert werden können, ohne deren Schutzfunktion zu beeinträchtigen. Da fast 50 Prozent der Schweizer Wälder vor Naturgefahren schützen, sieht Lachat hier eine «riesige Chance». Er stellt aber klar, dass «solche Lösungsansätze nur in engster Zusammenarbeit mit der Praxis erarbeitet werden können». Damit der Wald seine vielfältigen Funktionen erfüllen kann.  

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Fachgebiet: Agronomie + Wald