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Energiewende heisst Umdenken
11.03.2024 Ob bei der smarten Steuerung des Schweizer Stromnetzes oder bei nachhaltiger Planung im Bausektor: Wer Energiewende sagt, sagt auch Umdenken.
So richtig nachhaltig kann doch eigentlich nur ein neues Gebäude sein. Denn Neubauten verbrauchen im Betrieb weniger Energie. Wer mit Stanislas Zimmermann spricht, merkt schnell, dass diese einfache Sicht zu kurz greift. Denn die graue Energie, welche in Neubauten steckt, entspreche bei heute verbreiteter Bauweise dem Energiebedarf für 60 Jahre Betrieb.
Der BFH-Professor, Studiengangsleiter und Architekt erklärt das Umdenken in der Baubranche so: «Bisher stand die Reduktion der Betriebsenergie im Zentrum, jetzt konzentrieren wir uns immer mehr auf die graue Energie.» Graue Energie ist Energie, die bereits in den bestehenden Gebäuden steckt oder die für die Erstellung von Umbauten und Neubauten benötigt wird. Wenn die graue Energie, die Emissionen und der Ressourcenverbrauch berücksichtigt werden, so der Experte, werden Um- und Anbauten oft attraktiver als Ersatzneubauten.
Noch mehr Beton und Kabel?
Die Energie- und Ressourcenbilanz wird jetzt mit Blick auf das ganze System und auf die gesamte Lebensdauer des Gebäudes betrachtet. Gebäudehüllen werden zur Energie- und Wassergewinnung genutzt, Strom, Wasser und Wärme gespeichert, um Schwankungen auszugleichen. So muss möglichst wenig vom Netz bezogen werden. Statt Stahl, Zement oder Backstein kommen vermehrt lokale, biobasierte und wiederverwertete Baustoffe wie Holz, Lehm oder Naturstein zum Einsatz. Energieintensive Baustoffe werden nur noch dort eingesetzt, wo es noch keine Alternativen gibt.
Dank optimierter Geometrie und Konstruktion, Wärmedämmung, der Integration von Solarenergie und immer besseren digitalen Tools zur Planung mache nachhaltige Architektur gerade riesige Schritte nach vorn. «Die Architektur ist gerade stark im Umbruch», erzählt Professor Zimmermann, «die Energiewende verändert fast alles in der Architektur.»
Einen gleich gelagerten Umbruch beobachtet Stefan Schori im Schweizer Stromnetz. Er doziert als Experte für Elektrizitätsnetze an der BFH und kommt direkt auf den Punkt: «Wir beschäftigen uns schon länger mit der Frage, wie das Stromnetz der Zukunft aussehen müsste.» Mit der zunehmenden Verbreitung von Solarenergie, der Elektromobilität und von Wärmepumpen werde das Schweizer Stromnetz wesentlich stärker ausgelastet. Wo man bisher im Zweifel einfach dickere Kabel verlegt habe, votiert Schori für eine intelligentere Nutzung des bestehenden Netzes: «Man kann durch intelligente, steuerbare Anlagen und Geräte noch sehr viel herausholen.»
Smart Grid statt Netzausbau
Photovoltaik produziert zur Mittagszeit Leistungsspitzen, die das heutige Netz überlasten könnten. Die maximalen Leistungsspitzen treten jedoch nur an wenigen Tagen pro Jahr auf. «Es stellt sich daher die Frage», so Schori «ob es sinnvoll wäre, das Stromnetz für eine Situation auszubauen, wie sie eher selten auftritt.»
Mit smarter Regelung der Solaranlagen könne man diese Leistungsspitzen zum Beispiel um 20 bis 30 Prozent reduzieren. Natürlich geht durch diese Leistungsbegrenzung Energie verloren – etwa bis zu 7 Prozent. Diesen Einbussen bei der Produktion stehen Ersparnisse beim Netzausbau gegenüber. Denn eine smarte Regelung erlaubt es, das Netz auf eine geringere Leistung auszulegen. Das reduziert Netzinvestitionen und wirkt sich positiv auf Stromtarife aus.
Eine Wende, die auf sich warten lässt
Ob beim smarten Stromnetz oder bei intelligenter Architektur: Die Energiewende ist technisch bereits sehr wohl machbar. Aber: «Jede Veränderung ist schwierig», sagt Stefan Schori. Das liege in der Natur der Sache. So würden wirtschaftliche Interessen und Bedenken die Energiewende behindern.
Und – auch das ist ein Grund für den trägen Wandel – heute fehlen oft noch die Daten für nachhaltige Entscheide. So kennen viele regionale und kommunale Netzbetreiber heute die Auslastung ihrer Netze zu wenig genau, weil schlicht die Messinfrastruktur fehlt. Bauherrinnen und Bauherren fehlen ihrerseits realistische Zahlen zur grauen Energie, die durch Projekte verursacht werden. In beiden Branchen verlässt man sich also noch auf Richtwerte, wenn keine genaueren Daten verfügbar sind.
Auch ist der nachhaltige Weg heute oft noch der wirtschaftlich teurere. «Tragstrukturen aus Beton sind im Moment noch günstiger als Tragstrukturen aus Holz», begründet Stanislas Zimmermann. Er sieht die Entwicklung aber positiv: «Mit grösseren Serien wird nachhaltiges Bauen auch wirtschaftlich interessanter.»
Minimal Mindset: Weniger ist mehr.
Ein scheinbar einfacher Weg zur Energiewende liegt im Verbrauch. Denn in der kleinen Schweiz leben wir auf grossem Fuss. Auf über 45 Quadratmetern Wohnfläche wohnen wir, 17.8 Kilowattstunden, rund 33 Kilogramm CO2-Äquivalente, 287 Liter Wasser verbrauchen wir pro Kopf und Tag. Einfach weniger verbrauchen scheint also die offenkundige Lösung zu sein, die sich in Trends wie kompakteren Wohnformen oder autarken Tiny Häusern niederschlägt.
Wer Wohnfläche spart, spart auch Energie.
Die Energiewende nur auf den eigenen Verbrauch zu beziehen, greift aber zu kurz. Zu diesem Schluss kommen beide Forscher. Kleinwohnformen wie Tiny Houses sparen zwar Wohnfläche, aber verbrauchen relativ viel Bauland. Und wer ganz auf die eigene Energieautarkie setzt, wird nicht automatisch zur Brechung von Spitzen im Stromnetz beitragen.
Grundsätzlich ist der Ansatz der Tiny Houses schon richtig, sagt Stanislas Zimmermann. Er sieht das Potenzial aber eher bei gemeinschaftlichen Wohnformen nach dem Muster des Holliger Quartiers: «So spart man Bauland, graue und Betriebsenergie.»
Pragmatische Lösungen
Stanislas Zimmermann und Stefan Schori verfolgen naturgemäss unterschiedliche Ansätze auf dem Weg zu nachhaltigerem Bauen und Wohnen. So planen Schori und seine Kolleginnen und Kollegen ein «Smart Grid Lab», in dem sie moderne Geräte und Ansätze für die Stromnetze der Zukunft auf ihre Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit untersuchen. Zimmermann gibt seine Vision des nachhaltigen, auch auf graue Energie bedachten Bauens und Renovierens täglich an die Architektinnen und Architekten von morgen weiter.
Smart Grid Lab
Das Smart Grid Lab soll Geräteherstellern, Entwicklern von Energiemanagementsystemen und Netzbetreibern die Möglichkeit bieten, moderne, smarte Geräte einzeln und im Verbund zu testen und den Einfluss auf das Stromnetz zu untersuchen.
Wie das Labor umgesetzt werden kann, wird aktuell geplant. Vorgesehen ist eine Realisierung im neuen Campus der BFH in Biel ab Herbst 2027. Räumlich soll es sich innerhalb des gemeinsamen Laborraums des Labors für Photovoltaiksysteme und des Labors für Elektrizitätsnetze befinden.
Neben diesen beiden Labors sind insbesondere Forschungsgruppen des Instituts für Energie- und Mobilitätsforschung involviert.