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Motivational Interviewing: Mit Akzeptanz zur Verhaltensänderung
08.05.2024 Dr. Otto Schmid, Trainer in Motivational Interviewing (MI) und Suchtberater, unterrichtet an der BFH einen Fachkurs zu Motivational Interviewing. Die Gesprächsführungstechnik zielt darauf ab, Menschen zur Veränderung problematischer Verhaltensweisen zu motivieren. Er macht im Interview deutlich, dass MI in allen Gesundheitsprofessionen angewendet werden kann. Im Zentrum steht dabei eine akzeptierende und wertschätzende Haltung.
Was ist Motivational Interviewing?
Otto Schmid: Motivational Interviewing ist eine spezifische Gesprächsführung, bei der die befragte Person dazu motiviert wird, ein problematisches Verhalten zu verändern. Die Methode entstand in der Suchtbehandlung, kann aber in jeglichen Situationen eingesetzt werden, bei denen Veränderungsprozesse anstehen. Insofern kann Motivational Interviewing von Fachpersonen aller Gesundheitsberufe angewendet werdet, ist aber auch für Sozialpädagog*innen hilfreich. Als Vater kann ich darüber hinaus bestätigen: Motivational Interviewing funktioniert auch in der Eltern-Kind-Beziehung.
Wie genau funktioniert Motivational Interviewing?
Otto Schmid: Im Zentrum der Veränderung steht die Sprache. Sie ist nicht nur eine Technik, in ihr widerspiegeln sich auch Wirkfaktoren. Wenn es uns gelingt, unseren Patient*innen gut zuzuhören, können wir ihren Aussagen immer wieder Argumente entnehmen, die für oder gegen eine Veränderung sprechen. Das laute Nachdenken über Veränderungen nennen wir Change Talk. Demgegenüber steht der Sustain Talk, das laute Nachdenken über die Nichtveränderung.
Es geht vor allem darum, den Change Talk aufzunehmen, diesen zu wiederholen und damit die Verhaltensmotivation zu fördern. Beispiele dafür sind Aussagen wie «Vielleicht würde ich mich wohler fühlen» oder «Ich hätte dann vielleicht mehr Energie». Nichts ist so wirkungsvoll wie das, was Patient*innen selbst über ihre Veränderungen sagen.
Warum eignet sich gerade Motivational Interviewing für das Herbeiführen von Lebensstil-Veränderungen?
Otto Schmid: Motivational Interviewing setzt bei den Bedürfnissen und Ressourcen der Patient*innen an, die letztlich zentral sind für Lebensstil-Interventionen. Die Methode kennt vor allem auch Strategien, wie man mit dem häufigen Problem der Ambivalenz umgehen und wie Letztere überwunden werden kann. Ein müder Vater kehrt beispielsweise von der Arbeit zurück und steht vor folgender Entscheidung: Soll er seine Physiotherapieübungen machen oder mit seinen Kindern spielen, bevor sie ins Bett gehen? Trotz seines inneren Konflikts zwischen dem Bedürfnis nach Gesundheit und Schmerzlinderung und dem Wunsch, Zeit mit seinen Kindern zu verbringen, muss er eine Wahl treffen. Manchmal entscheidet er sich dafür, mit den Kindern zu spielen und die Übungen zu vernachlässigen – auf Kosten seiner Gesundheit. Diese Ambivalenz muss die Physiotherapeutin kennen, um den Patienten erfolgreich zu begleiten.
Wie erreichen Sie, dass die Patient*innen ihre Lebensgewohnheiten langfristig ändern?
Otto Schmid: Indem wir mit Werten und Wertvorstellungen arbeiten. Sie sind der Schlüssel zur intrinsischen Motivation. Nehmen wir an, eine schwangere Frau raucht – zum einen, weil der Rauch ihr schmeckt, zum anderen, weil es ihr hilft, ihre Emotionen zu regulieren. Trotzdem möchte sie ein gesundes Kind gebären und strebt danach, ein Vorbild zu sein. Diese Werte möchten wir ansprechen, hervorheben und ins Bewusstsein rufen.
Wo liegen die Herausforderungen?
Otto Schmid: Die Herausforderung äussert sich im Sustain Talk, dem lauten Nachdenken über die Nichtveränderung. Wir müssen in solchen Situationen darauf achtgeben, dass wir nicht unsere eigenen Werte oder gar Moralvorstellungen mit denen unserer Patient*innen vermischen. Auf der einen Seiten wollen wir immer Veränderungen in Betracht ziehen, auf der anderen Seite ist es ein wichtiger Teil der Akzeptanz, dass wir die Autonomie der Patient*innen hochhalten. Dass wir es akzeptieren, wenn die Person etwas nicht will, und dass dies deren gutes Recht ist. Das ist ein Stück weit die Herausforderung: Wir wollen den Patient*innen zum Besseren verhelfen, aber manchmal ist das, was wir uns als das Bessere vorstellen, in den Augen der Patient*innen keine Verbesserung.
Wir müssen darauf achtgeben, dass wir nicht unsere eigenen Werte oder gar Moralvorstellungen mit denen unserer Patient*innen vermischen.
Was sollten Gesundheitsfachpersonen berücksichtigen, wenn sie ihre Patient*innen zu Lebensstil-Interventionen motivieren wollen?
Otto Schmid: Wichtig ist, dass wir die Patient*innen akzeptieren, wie sie sind, und ihnen mit Wertschätzung und auf Augenhöhe begegnen. Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem in einer akzeptierenden Atmosphäre eine Veränderung stattfinden kann. Ein Beispiel: Eine nikotinabhängige Person, die von uns immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Rauchen ungesund ist, entwickelt irgendwann Scham- und Schuldgefühle, vielleicht verneint sie gar, nikotinabhängig zu sein. In dieser Atmosphäre kann keine Veränderung stattfinden. Als behandelnde Person dürfen wir das Verhalten nicht verurteilen. Stattdessen müssen wir den Menschen so akzeptieren, wie er vor uns steht. Nur so können wir tatsächlich eine Veränderung – in diesem Fall einen Rauchstopp – herbeiführen.
Gesundheitsfachpersonen sind zeitlich oft stark beansprucht. Kann Motivational Interviewing auch unter Zeitdruck eingesetzt werden?
Otto Schmid: Motivational Interviewing kann auch dann angewendet werden, wenn wenig Zeit zur Verfügung steht. Aber: Die Beziehung ist der Hauptwirkfaktor einer Therapie. Wir können eine Veränderung nie erreichen, wenn wir keine Beziehung haben zu den Patient*innen. Unser höchstes Ziel ist es, in der Therapiezeit – ungeachtet von deren Länge – mit der zu behandelnden Person in eine Beziehung zu treten. Eine Hausärztin beispielsweise hat oft nur zehn- bis zwölfminütige Konsultationen. In dieser Zeit muss es ihr gelingen, das Vertrauen ihres Gegenübers zu gewinnen und eine Beziehung aufzubauen.
Wichtig ist, dass wir die Patient*innen akzeptieren, wie sie sind, und ihnen mit Wertschätzung und auf Augenhöhe begegnen. Untersuchungen haben gezeigt, dass vor allem in einer akzeptierenden Atmosphäre eine Veränderung stattfinden kann.
Was erwartet die Teilnehmer*innen im Fachkurs Motivational Interviewing?
Otto Schmid: Wir gehen zum einen auf verschiedene Techniken und Methoden ein, wie die offene Fragestellung oder das reflektierte Zuhören. Zum anderen ist das Training zentral. Die grosse Kunst des Motivational Interviewing besteht darin, die Techniken, die akzeptierende Grundhaltung und die Verhaltensänderung im Gespräch zu verbinden. Teilweise ist man so stark auf die offene Fragestellung oder die akzeptierende Grundhaltung fokussiert, dass man die Veränderungsaussagen gar nicht mehr hört. Das Besondere ist das Kommunikationstraining: Wir üben die Theorie in Rollenspielen mit professionellen Schauspieler*innen. Diese haben Kenntnis über die Methoden des Motivational Interviewing und können gezielt Rückmeldungen zur Gesprächsführung geben.
Interview: Isabelle Stupnicki, Kommunikation Departement Gesundheit
Verschriftlichung: Nicole Schaffner, Kommunikation Departement Gesundheit
Zur Person
Dr. Otto Schmid ist erfahrener Motivational-Interviewing-Trainer und Suchtberater. Als Dozent im Fachkurs Motivational Interviewing der BFH lehrt er Gesundheitsfachpersonen, aber auch Sozialpädagog*innen, wie sie bei ihren Klient*innen Verhaltensveränderungen herbeiführen können.
Website: suchtcoach.ch
Lebensstil-Interventionen im Fokus
Die Förderung eines gesunden Lebensstils gewinnt zunehmend an Bedeutung bei der Prävention von Krankheiten und bei der Rehabilitation nach Krankheitsfällen. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu unserem Forschungsfeld Lebensstil-Interventionen. Auch das Symposium Fokus Gesundheit widmet sich diesem Schwerpunktthema mit ausgewiesenen Fachexpertinnen und Fachexperten.