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Kinder stärken in Kindesschutzverfahren
18.11.2024 Ein neuer Leitfaden gibt Empfehlungen, um Kinder in Verfahren der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) zu stärken. Der Leitfaden basiert auf einer interdisziplinären BFH-Studie, die Praxisfälle im Kindesschutz untersucht hat. Anhand einer dieser Fälle werden zentrale Inhalte des Leitfadens vorgestellt.
Das Wichtigste in Kürze
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Die Position des Kindes vor der KESB wird gestärkt, wenn die Kindesvertreter*innen den Willen des Kindes kennen und vertreten.
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Grundlage dafür ist eine gute Rollen- und Aufgabenklärung zwischen den Fachpersonen.
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Der neue Leitfaden gibt Fachpersonen dafür ein konkretes Werkzeug in die Hand.
Anna
Die 14-jährige Anna wuchs ohne ihren Vater auf und wurde von ihrer Mutter in den ersten Lebensjahren massiv vernachlässigt und geschlagen. Als Anna vier Jahr alt war, veranlasste die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine ausserfamiliäre Platzierung in einem Kinderheim, in dem sie bis heute lebt. Seit einiger Zeit hält sich Anna nicht mehr an die Regeln der Institution. Vor einigen Wochen äusserte Anna gegenüber ihrer Beiständin den Wunsch, wieder bei ihrer Mutter wohnen zu dürfen. Die Beiständin informierte die KESB über das Anliegen der Jugendlichen, steht diesem Wunsch jedoch skeptisch gegenüber. Die KESB eröffnet ein Kindesschutzverfahren und setzt eine Kindesvertretung nach Art. 314abis des Schweizerischen Zivilgesetzbuches ZGB ein.
Hinweis: Alle hier genannten Personen kommen in der BFH-Studie vor, wurden jedoch anonymisiert. Zudem wurden einige Eckdaten verändert, damit keine Rückschlüsse auf Personen möglich sind.
Was ist eine Kindesvertretung?
Kinder haben das Recht, in Verfahren der KESB beteiligt zu werden. Dieses Recht ist in internationalen und nationalen Rechtsquellen festgehalten. Die Kindesvertretung nach Art. 314 abis ZGB wurde 2013 im Zuge der Einführung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts ins ZGB aufgenommen. Sie ist ein verfahrensrechtliches Partizipationsinstrument, das Kindern ermöglicht, aktiv am Kindesschutzverfahren mitzuwirken. Kindesvertreter*innen haben eine von der KESB unabhängige Rolle und nehmen Partei für das Kind. Sie werden aufgrund dieser parteilichen Rolle auch als Kinderanwält*innen bezeichnet. Ihr Fokus liegt darauf, den Willen des Kindes zu vertreten und seine Rechte zu wahren. Sie berücksichtigen dabei jedoch auch das Kindeswohl, also das, was objektiv das Beste für das Kind zu sein scheint.
Die KESB hat in bestimmten Fällen die Pflicht, den Einsatz einer Kindesvertretung zu prüfen und eine solche einzusetzen, wenn es die Situation erfordert. Zu diesen Fallkonstellationen gehört auch die Situation von Anna: Diskutiert wird, ob Anna weiter im Kinderheim bleibt oder sie zu ihrer Mutter zurückkehren darf. Anna hat seit vielen Jahren eine Beiständin. Deren Aufgabe ist es, die ausserfamiliäre Platzierung zu begleiten und eine Einschätzung darüber abzugeben, ob eine Rückkehr nach Hause dem Kindeswohl entsprechen könnte. Die Kindesvertretung wird Anna nun als zusätzliche Ressource im Sinne einer parteilichen Unterstützung zur Seite gestellt. Kindesschutzverfahren betreffen häufig Kinder wie Anna, die unter belastenden Umständen in Familien leben und Gewalt oder Vernachlässigung erfahren. Manchmal sind die Kinder bereits ausserfamiliär untergebracht. Sie sind deshalb besonders vulnerabel. Ein Kindesschutzverfahren kann für diese Kinder anspruchsvoll und belastend sein. Deshalb ist es in solchen Verfahren besonders wichtig, die Kinder gut einzubeziehen, damit sie sich selbstwirksam erfahren.
Wie erleben Jugendliche die Kindesvertretung?
Die dem Leitfaden zu Grunde liegende interdisziplinäre Studie der BFH zeigt, dass sich Jugendliche tatsächlich durch die Kindesvertretung im Verfahren einbringen können. Sie fühlen sich gehört, ernst genommen und emotional unterstützt. Die Kindesvertretung gibt ihnen im Kindesschutzverfahren Sicherheit:
«Vor allem wenn man nervös ist oder so viel im Kopf hat, dann habe ich mich dadurch jeweils beruhigt gefühlt, dass ich zum Beispiel vor dem Termin mit [der*m Kindesvertreter*in] reden und besprechen konnte, was ich sagen will. Wenn ich während des Termins etwas vergessen habe oder nicht ganz selbst erklären konnte, dann konnte er/sie sozusagen immer einspringen. Wenn ich zum Beispiel etwas Wichtiges vergessen hätte oder so. Das hat mir viel Sicherheit gegeben.» (Ausschnitt aus dem Interview mit einer Jugendlichen)
Auch Anna erlebte es positiv, dass sie mit der Kindesvertretung eine Fachperson zur Seite hatte, die ihren Willen vor der KESB vertrat: «[Die Kindesvertretung] hat meine Sicht […], wie soll ich sagen, in Fachworten [übersetzt] und das einfach verständlicher gemacht, sodass es auch die Erwachsenen vielleicht kapieren.» (Ausschnitt aus dem Interview mit Anna)
Die Kindesvertretung von Anna konnte ihren starken Wunsch, wieder bei ihrer Mutter zu wohnen, mit differenzierten Argumenten an die KESB übermitteln. Dies hatte zur Folge, dass der Kindeswille im Entscheid stärker gewichtet wurde. Die Rückkehr zur Mutter wurde in Zusammenarbeit mit der KESB, der Beiständin und der Kindesvertretung sorgfältig vorbereitet und schliesslich ermöglicht.
Infos zur Studie und Bestellung des Leitfadens
Der Leitfaden basiert auf den Ergebnissen der Studie «Besserer Kindesschutz durch kindfokussierte Zusammenarbeit im KESB-Verfahren», die durch die Paul Schiller Stiftung und die BFH finanziert wurde. In der Studie wurden Kindesschutzfälle mit eingesetzter Kindesvertretung in fünf Kantonen untersucht und dabei Interviews mit Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 22 Jahren geführt, die zum Zeitpunkt des Verfahrens zwischen 9 und 16 Jahre alt waren. In einem Workshop mit Fachpersonen aus der Praxis wurden die Forschungsergebnisse diskutiert und die Kernbotschaften des Leitfadens herausgearbeitet. Ein Entwurf des Leitfadens wurde von verschiedenen Organisationen und Fachpersonen gegengelesen, um den Leitfaden fachlich breit abzustützen. Eine kostenlose gedruckte Version kann hier bestellt oder eine elektronische Version heruntergeladen werden.
Wie wird die Partizipation konkret umgesetzt?
Die Position des Kindes im Verfahren wird insbesondere gestärkt, indem die Kindesvertreter*innen den Willen des Kindes kennen und diesen gegenüber der KESB vertreten. Den betroffenen Kindern und Jugendlichen fällt es jedoch oft nicht leicht, sich über ihre Wünsche und Bedürfnisse klarzuwerden und diese zu formulieren. Damit Kindesvertreter*innen diesen Prozess unterstützen können, benötigen sie spezifische fachliche und methodische Kompetenzen sowie viel Fingerspitzengefühl. Anna hat sich mehrfach mit ihrer Kindesvertretung unterhalten, um sich über ihren Wunsch klarzuwerden. Dies ist wichtig, um herauszufinden, wie die beste Lösung aussieht. Die Kindesvertretung setzt sich gleichzeitig vertieft mit ihrer aktuellen Lebenssituation sowie mit dem Kindesschutzverfahren selbst auseinander und berücksichtigt auch das Kindeswohl.
Die Studie der BFH hat gezeigt, wie Kindesvertreter*innen die Willensbildung konkret unterstützen können. Beispielsweise sollten Anna alle Entscheide und Handlungen der KESB in einer altersgerechten Sprache erklärt werden. Es ist auch wichtig, sie in unterschiedlichen Situationen nach ihren Bedürfnissen zu befragen. So fällt es Anna an einem neutralen Ort eventuell leichter, ihre Wünsche zu formulieren, als in der Institution, in der sie möglicherweise bleiben muss. Die Kindesvertretung sollte den geäusserten Willen mit Anna auch kritisch reflektieren und ihr allfällige Folgen aufzeigen, was passieren kann, wenn ihr Wille durchgesetzt wird. Ein Beispiel illustriert mögliche Überlegungen:
«Ja, natürlich habe ich ihn ganz konkret nach den jetzigen oder derzeitigen Lebensumständen gefragt und wie er diese auch einschätzt. Auch, was er sich wünschen würde. Wie es in seinen Augen weitergehen soll. Da kamen dann schon Wünsche, zu welchen man jetzt als erwachsene Person sagen muss: ‹Ja, das ist einfach nicht kindeswohlgerecht.› […] Ja, aber was bedeutet das denn für dich, wenn du zuhause nicht einmal ein Bett hast? Und kein Pult? Und nicht in die Schule gehen kannst?» (Aussage einer Kindesvertreter*in)
Kindesvertretung in der Praxis. Berner Tagung zum Kindes- und Erwachsenenschutz
An der Tagung diskutieren wir vertieft die Rolle und Umsetzung der Kindesvertretung sowie die Zusammenarbeit der Fachpersonen. Gestützt auf neue Forschungen liegt ein besonderer Fokus auf der Arbeit mit dem Kind.
19. März 2025, 9.15–16.15 Uhr – BFH, Soziale Arbeit, Hallerstrasse 10, 3012 Bern
Nach zehn Jahren Erfahrung mit Kindesvertretungen nach Art. 314abis ZGB werden diese noch immer unterschiedlich eingesetzt. In der Praxis bleiben verschiedene Fragen ungeklärt: zur Umsetzung, zum Rollenverständnis, zur Zusammenarbeit mit und zur Abgrenzung gegenüber anderen Akteur*innen.
An der Tagung werden neuste Forschungserkenntnisse zu Kindesvertretungen präsentiert und Erfahrungen aus der Perspektive verschiedener Fachpersonen ausgetauscht. Ein besonderer Fokus liegt auf der Arbeit mit dem Kind und der Frage, wie dieses im Prozess der Willensbildung unterstützt werden kann.
Kindfokussierte Zusammenarbeit – was heisst das?
Damit Kinder ihre Partizipationsrechte im Kindesschutzverfahren effektiv wahrnehmen können, ist nebst dem altersentsprechenden Einbezug des Kindes auch eine gute, kindfokussierte Zusammenarbeit zwischen der Kindesvertretung und allen Fachpersonen, die in das Verfahren involviert sind, nötig (z. B. Beistandspersonen, KESB-Behördenmitglieder, Abklärende). Grundlage dafür ist eine gute Rollen- und Aufgabenklärung zwischen den Fachpersonen, damit es zu keinen Auslassungen oder Überschneidungen von Handlungen kommt. Gute Kenntnisse über den Auftrag und die Aufgaben der anderen Fachpersonen sowie sorgfältige Absprachen zum weiteren Vorgehen (z. B. Absprachen darüber, wer das Kind über einen KESB-Entscheid und dessen Folgen informiert) sind ebenfalls förderliche Faktoren für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
Die beste Voraussetzung für eine kindfokussierte Zusammenarbeit und damit eine effektive Partizipation von Kindern im Verfahren ist, wenn sich alle involvierten Fachpersonen darum bemühen, gemeinsam für die Wahrung des Kindeswohls an einem Strang zu ziehen. Ziel des neuen Leitfadens ist es, Fachpersonen dafür ein konkretes Werkzeug in die Hand zu geben.
Literatur
Jenzer, Regina, Hauri, Andrea, Junker, Kathrin, Domenig, Claudio. (2024). Kindesvertretung in Verfahren der KESB. Leitfaden für Fachpersonen zur Rollenklärung, zur Zusammenarbeit und zum Einbezug des Kindes. Bern: Länggass Druck AG Bern.
Jenzer, Regina, Hauri, Andrea, Junker, Kathrin, Domenig, Claudio. (im Druck). Kindesvertretung nach Art. 314 abis ZGB. Eine qualitative Studie zur Rollenklärung, zur Zusammenarbeit und zum Einbezug des Kindes im Verfahren der KESB (Arbeitstitel). In Daniel Rosch & Luca Marantha (Hrsg), Schriften zum Kindes- und Erwachsenenschutz. Bern: Stämpfli Verlag.