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Partizipative Interventionen in Bern West

09.09.2024 Wie kann die Beteiligung am Quartiergeschehen in Bern West diversitätssensibler werden? In einem Projekt sucht die BFH zusammen mit der Quartierarbeit und anderen Beteiligten nach Antworten. Das Projekt läuft seit rund eineinhalb Jahren.

Das Wichtigste in Kürze

  • In Bern West gibt es für die heterogene Bevölkerung eine Vielzahl soziokultureller Angebote, dennoch ist es nicht allen Ansässigen möglich, sich am Quartierleben zu beteiligen. 

  • Ziel des Forschungsprojekts «Vielfältiges Quartier für alle» sind Interventionen, die Menschen erreichen, die mit Hürden konfrontiert sind, beispielsweise weil sie hohe Arbeitspensen, Mehrfachbelastungen oder mangelnde Sprachkenntnisse haben.

  • Nach drei Interventionen lautet das Fazit: Sie haben das Potenzial, einen Raum für Dialog zu schaffen, u.a. wird diskutierbarer, inwiefern sich die Möglichkeiten der Bewohnenden unterscheiden, das Zusammenleben mitzugestalten.

In Bern West gibt es für die heterogene Bevölkerung eine Vielzahl soziokultureller Angebote. Trotz niederschwelliger Zugangsformen in Bümpliz, Untermatt oder Bethlehem ist es nicht allen Ansässigen möglich, sich am Quartierleben zu beteiligen. Das zeigt sich mitunter darin, dass die vielschichtigen Lebensrealitäten der Bevölkerung im Stadtteil zu wenig sichtbar und manche Stimmen unterrepräsentiert sind. Auch fliessen wichtige Ressourcen und Erfahrungen nicht in die Gestaltung des Zusammenlebens ein. Darum fragten sich Sozialarbeitende der städtischen Quartierarbeit und zivilgesellschaftliche Kollektive: Wie wird die Beteiligung am Quartiergeschehen diversitätssensibler, und wie können mehr Gelegenheiten für die Partizipation aller entstehen? 

Im transdisziplinären Forschungsprojekt «Vielfältiges Quartier für alle» des Departements Soziale Arbeit und der Hochschule der Künste (HKB) haben wir diese Fragen aufgegriffen. Wir erproben zusammen mit Fach- und Schlüsselpersonen sowie mit Menschen aus dem Quartier während zweier Jahre alltags- und lebensweltnahe Formate zur Partizipation. Ziel des Projektes ist es, die Bevölkerung auf innovative Weise anzusprechen und diversitätsreflektiert zur Beteiligung einzuladen. Die Angebote sollen also auch Menschen erreichen, die auf dem Weg zur Teilhabe immer wieder mit Hürden konfrontiert sind – beispielsweise durch hohe Arbeitspensen, durch knappe Zeitressourcen, Mehrfachbelastungen oder mangelnde Sprachkenntnisse.

Wie gehen wir vor?

Wir orientieren uns am transformativen Forschungsansatz des Reallabors und arbeiten mit künstlerischen Interventionen sowie kommunikativen Impulsen. Ein so angelegtes Reallabor verfolgt Forschungsziele und untersucht soziale Dynamiken und Prozesse. Gleichzeitig ermöglicht es individuelle und kollektive Lernprozesse und stösst konkrete Veränderungen an. Durch den gezielten Einbezug der Zivilgesellschaft haben Reallabore das Potenzial, die Mitgestaltungsmöglichkeiten marginalisierter Personengruppen zu erweitern. Auch können sie neue, lokalspezifische sowie situationsgebundene Lern- und Dialogformen ermöglichen (Räuchle & Schmiz, 2020). 

Im Sinn einer reflexiven, kollaborativen und vielstimmigen Wissensproduktion gilt es, Ungleichheiten und bestehende Machtasymmetrien mitzudenken, da oftmals machtvolle Gruppen (z. B. gut ausgebildete Akademiker*innen) Wissen über marginalisierte Gruppen (z. B. marginalisierte Migrant*innen) hervorbringen. Reallabore bedienen sich meist eines experimentellen Ansatzes. In unserem Projekt erfolgt dies in Form von quartiers- und themenbezogenen, sinnlich ansprechenden Interventionen. 

Partizipative Interventionen gestalten

In enger Zusammenarbeit mit Fachpersonen aus der Quartierarbeit, Schlüsselpersonen und Menschen aus dem Quartier eruieren wir Themen, die in Bern West präsent sind und sich dafür eignen, Beteiligungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten zu erweitern. Bevor wir eine Intervention ausarbeiten, bauen wir ein bedarfsorientiertes, quartiernahes und möglichst diverses Netzwerk auf, das sowohl Zugang zu bestehenden als auch zu neuen Kontakten im Stadtteil ermöglicht. In einer Kerngruppe, die aus diesem Netzwerk gebildet wurde, konzipieren und planen wir die Intervention bis zu deren Umsetzung und darüber hinaus. Wichtig ist uns, dass die Interventionen eine längerfristige Wirkung haben. Dabei sind zwei Aspekte immens wichtig: Einerseits die Intervention als fassbares Produkt, andererseits die Eröffnung eines Dialog- und Möglichkeitsraums durch den gesamten lancierten Prozess.

Glockenspiel: Ein Liederrepertoire für alle

Bis anhin haben wir drei von insgesamt fünf Interventionen realisiert. Als symbolischer und hörbarer Auftakt des Projekts wurde Ende Mai 2023 das bestehende Liederrepertoire des Glockenspiels im Tscharnergut erweitert. Das Ziel der Intervention bestand darin, ein kuratiertes kulturelles Symbol im Stadtteil zu vergemeinschaften und für die breite heterogene Quartierbevölkerung zugänglicher zu machen. Bisher waren im Liederrepertoire vor allem traditionelle Melodien aus dem lokalen und schweizerischen Kontext vertreten. Die Intervention sollte die Möglichkeit eröffnen, bedeutsame Lieder aus der gesamten Quartierbevölkerung aufzunehmen, um der Vielfalt im Stadtteil eine Stimme zu verleihen (vgl. Gäumann et al., 2023). Heute, rund ein Jahr später, zählt das Liederrepertoire zahlreiche neue Melodien. Eine Plakette mit QR-Code am Glockenspiel vereinfacht deren Eingabe. 

Diese erste Intervention hat im Quartier zu vielen positiven Reaktionen geführt, so zum Beispiel von Kindern aus der Valluvanschule im Tscharnergut. Davon zeugt etwa die Rückmeldung der Schulleiterin Nanthini Murugaverl: «Sie (Anm. d. Red.: die Schüler*innen) hatten grosse Freude, dass alle Leute des Quartiers ihre tamilischen Lieblingslieder vom Glockenturm hören konnten.»

Platz mit dem Glockenspiel in Bern West
Beim Glockenspiel in Bern West fand eine erster Anlass im Rahmen des Projekts statt.

Was erwarten Sie von einem Begegnungsort?

Die zweite Intervention thematisierte Begegnungsorte und -möglichkeiten in Untermatt, einem Quartier mit geringen Freiflächen und öffentlichen Räumen. Im Rahmen des jährlich stattfindenden Quartierfests im September 2023 machte das Projektteam gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Begegnung auf Gestaltungsmöglichkeiten öffentlicher Räume aufmerksam und ergründete mit Gesprächen die Erwartungen an Begegnungsorte. Begleitet von der BFH, entwickelt die Arbeitsgruppe nunmehr weitere Aktionen und Impulse, um dem Thema Begegnung im Stadtteil mehr Aufmerksamkeit zu verleihen. Mitgliedern der Arbeitsgruppe geht es darum, Grenzen zu überwinden, und darum, einander … «zu begegnen! Ich spüre gern das Quartier und die Menschen, die hier wohnen − es gibt so viele Perspektiven und es sollen Verbindungen geschaffen werden zwischen den Generationen, Geschlechtern und so 
weiter ...».

Stand mit Wimpeln
Am Quartierfest im Untermattquartier wurden Erwartungen an Begegnungsorte gesammelt.

Fokus auf die Spielgruppen

Bei der dritten Intervention im Frühling 2024 stand im Vordergrund, die Care- und Kohäsionsarbeit im Quartier sichtbar zu machen. Deren Bedeutung wurde am Beispiel der Spielgruppenleiter*innen in Bern West gezeigt. Sie leisten neben ihrer pädagogischen Aufgabe einen wichtigen Beitrag, um die zahlreichen Familien im Stadtteil, die mehrheitlich in prekären Lebenslagen sind, zu unterstützen und zu begleiten. Sichtbar gemacht wurde dies nun mit Porträts der Spielgruppen, die den Quartierbewohnenden Fakten und Wissenswertes über diese Care-Arbeit vermittelten. Gleichzeitig bot diese Intervention Gelegenheit, das Engagement sowie die Erfahrungs- und Wissensbestände der Spielgruppen­leiter*innen zu würdigen. 

Eine Quartierarbeiterin, die das Frühförderprogramm Primano der Stadt Bern im Quartier koordiniert, bewertete die Intervention wie folgt: «Die Spielgruppen sind sehr wichtige Playerinnen im Sozialraum von Bern West. Sie leisten wertvolle und herausfordernde Arbeit, die oft nicht gesehen und gewürdigt wird. Ihr zu etwas mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, fand ich daher toll.»

Die beteiligten Spielgruppenleiter*innen konnten durch die Intervention Öffentlichkeitsarbeit betreiben und sich als Kollektiv stärken, um ihre Anliegen − darunter die Anerkennung der pädagogischen und integrativen Leistungen von Spielgruppen, die das Angebot der Kindertagesstätten ergänzen − mit mehr Nachdruck einzubringen.

«Die Spielgruppen sind sehr wichtige Playerinnen im Sozialraum von Bern West. Sie leisten wertvolle und herausfordernde Arbeit, die oft nicht gesehen und gewürdigt wird. Ihr zu etwas mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, fand ich daher toll.»

Quartiermitarbeiterin

Erste Erkenntnisse, Chancen, Herausforderungen

Alle Interventionen haben den Anspruch, eine quartierrelevante Thematik im Sinne einer diversitätssensiblen Gestaltung weiterzuentwickeln. Bis anhin zeigt sich, dass die Frage der Öffnung und Erweiterung von Beteiligungsmöglichkeiten in einem von Diversität geprägten Stadtteil auf einen spürbaren Bedarf trifft. Die Interventionen bringen eine vielfältige Resonanz hervor und haben durch ihre niederschwellige und sinnlich ansprechende Form das Potenzial, einen Raum für Dialog zu schaffen. 

Dank der Interventionen wird nun diskutierbarer, inwiefern sich die Möglichkeiten der Bewohnenden von Bern West unterscheiden, das Zusammenleben mitzugestalten und daran teilzuhaben. Zudem helfen die Interventionen dabei, Beteiligungsmöglichkeiten für alle zu öffnen. Die Interventionen regen Diskussionen über neue Formen des sozialen Miteinanders an. Auch zeigen sich Formen des Empowerments der Beteiligten, da die Aktivitäten rund um die Interventionen Artikulations- und Begegnungsräume schaffen. Dadurch entstehen neue Verständigungsprozesse. Solche Effekte sind erfreulich und haben ihre Wirkung jeweils im Verlauf des Prozesses, der mit einer Intervention einhergeht, zusehends entfaltet. Dazu kommen Dynamiken, die sich im Nachgang an die Interventionen teilweise entwickeln konnten und die ebenfalls zu neuen Begegnungsmöglichkeiten führen könnten. Die Kehrseite davon ist, dass sowohl die Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Akteur*innen als auch die Entwicklung transformativer Impulse zeitintensiv sind und viel Beziehungs- und Vertrauensaufbau voraussetzen. Zentrale Bedingungen für das beschriebene Vorgehen mit explorativem Charakter sind zudem Offenheit und stetige Reflexion, damit der Anspruch eingelöst wird, diversitätssensibel vorzu­gehen. 

Ausblick

Im Herbst 2024 wird eine vierte Intervention lanciert, diesmal zum Thema des (nachhaltigen) Essens und der Bedeutung der Gastgeber*innenschaft als Beteiligungsform und Ressource im Quartier. Als Abschluss ist eine fünfte Intervention geplant, die in den Blick rücken soll, wie das gesammelte Wissen für die Zukunft nutzbar gemacht werden kann. Im Sinne der Verstetigung werden wir die gewonnenen Erkenntnisse in Form einer Toolbox für diversitätssensible Beteiligungsmöglichkeiten aufarbeiten und den Praxisinstitutionen sowie den Fachpersonen der Quartierarbeit zur Verfügung stellen – im Wissen um den grossen Bedarf auch in anderen Kontexten und ausserhalb von Bern West. 

Literatur

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