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Identität als Schlüssel zur Professionalität in der Sozialen Arbeit

04.06.2024 Die Entwicklung einer professionellen Identität ist für angehende Fachpersonen der Sozialen Arbeit zentral. Im Interview erklärt Janine Lüscher, warum eine professionelle Identität unverzichtbare Grundlage für ein verantwortungsvolles und kompetentes Handeln ist – und wie Hochschule, Praxis und Studierende diesen Prozess unterstützen können.

Das Wichtigste in Kürze

  • Professionelle Identität ist die Summe dessen, wie ich mich als Fachperson selbst entwerfe, wie ich fühle, wahrnehme, welches Bild ich von mir als Vertreter*in einer Profession Sozialer Arbeit habe und welche Erwartungen ich an diese Berufsrolle knüpfe.

  • Studierende müssen lernen, theoretisches Wissen auf eine konkrete Problemstellung hin zu interpretieren und dieses mit beruflichem Erfahrungswissen verschmelzen zu lassen. 

  • Auch nach dem Studium bleibt die kontinuierliche Selbstreflexion und Weiterbildung wichtig, um professionelles Handeln und die eigene Haltung weiterzuentwickeln.

Janine Lüscher, Sie haben an der Tagung Praxisausbildung jüngst ein Referat gehalten zum Thema «Fachperson werden – Identitätsbildung als Grundbaustein professionellen Handelns»: Warum ist die Identitätsbildung so wichtig auf dem Weg zur Fachperson der Sozialen Arbeit?

Janine Lüscher: Fachpersonen der Sozialen Arbeit arbeiten mit vulnerablen Personen und stehen diesen gegenüber in einem Machtverhältnis. Aus diesem Grund reicht es nicht, wenn Fachpersonen einfach einsozialisiert werden in eine bestehende Praxis. Ich werde keine professionell handelnde Fachperson, wenn ich nur beobachte, wie es die anderen machen und es ihnen nachahme. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit bedingt neben einem umfassenden Wissensfundus und methodischem Repertoire eine professionelle Identität und einen professionellen Habitus.

Ich versuche dies anhand eines Beispiels zu erklären: Wenn ich nach meinem Studienabschluss in einem Sozialdienst arbeite und dort in einem Besprechungsraum einer armutsbetroffenen Familie gegenübersitze, sind mir diese Menschen komplett ausgeliefert. Niemand ist da und greift in die Gesprächssituation ein, wenn ich mich unangemessen verhalte. Da jede Familiensituation einzigartig ist, nützt es mir auch nicht viel, wenn ich bei anderen Sozialarbeitenden in solchen Gesprächen hospitiert habe. Ich muss meine eigenen Entscheidungen fällen und dabei bin ich als Fachperson fortan nur noch sehr punktuell Kontrollmechanismen unterworfen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass mein Handeln rückgebunden ist an meine reflektierte Vorstellung davon, was mich als Sozialarbeiterin ausmacht und woran ich mich in meinem Handeln orientiere.

Ich werde keine professionell handelnde Fachperson, wenn ich nur beobachte, wie es die anderen machen und es ihnen nachahme.

Janine Lüscher
Janine Lüscher Wissenschaftliche Mitarbeiterin, BFH

Meine professionelle Identität ist die Summe dessen, wie ich mich als (angehende) Fachperson Sozialer Arbeit selbst entwerfe, wie ich fühle, wahrnehme, welches Bild ich von mir als Vertreterin einer Profession Sozialer Arbeit habe und welche Erwartungen ich an diese Berufsrolle knüpfe.

Janine Lüscher

Janine Lüscher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team Bachelor Soziale Arbeit. Sie ist Modulverantwortliche der Praxis-Begleitmodule und als Coach in den Pepi-Modulen tätig. 2012 schloss sie den MSc Soziale Arbeit an der Hochschule Luzern und 2020 den MAS Coaching, Supervision & Organisationsberatung an der ZHAW ab. Zurzeit doktoriert sie an der Universität Zürich. Sie arbeitete während zehn Jahren als Sozialarbeiterin auf dem polyvalenten Sozialdienst Langenthal und ist neben ihrer Anstellung an der BFH auch selbständige Supervisorin, Coach und Organisationsberaterin.

Wie können Hochschule, Praxis und die Studierenden selbst die Entwicklung einer professionellen Identität unterstützen?

In Bezug auf die Entwicklung einer professionellen Identität sehe ich als Hauptaufgabe der Hochschule, den Studierenden die Differenz zwischen Wissenschaftswissen und beruflichem Handlungswissen zu verdeutlichen. Theorie ist keine Anleitung für die Praxis. Ich habe es in den Praxisbegleitmodulen erlebt, wie Studierende mit dieser Erwartung ins Praxismodul starteten und dort arg enttäuscht wurden. Die einen richten diese Enttäuschung dann gegen die Hochschule, die ihnen Wissen vermittelt, das vermeintlich nichts mit der Praxis zu tun hat, die anderen richten die Enttäuschung gegen die Praxis, die vermeintlich unprofessionell agiert.

Es ist bedeutend, dass unsere Studierenden lernen, verschiedene Wissensformen miteinander in einen Dialog zu bringen, theoretisches Wissen selektiv auf eine konkrete Problemstellung hin zu interpretieren und dieses mit beruflichem Erfahrungswissen verschmelzen zu lassen. So entsteht etwas, das Bernd Dewe Professionswissen nennt. Eine solche Theorie-Praxis-Relationierung geschieht vor allem in der Ausbildungssupervision und in den sogenannten Pepi-Modulen (Persönliche Entwicklung einer professionellen Identität, Anm. d. Red.). Seit unserem neuen Curriculum geschieht dies jedoch vermehrt auch in klassischen Lehrveranstaltungen. 

Die Praxisausbildung leistet den Löwenanteil an Identitätsentwicklung im Studium, indem sie die Kulisse abgibt, vor der lernendes Handeln beobachtet und reflektiert werden kann. Praxis leistet Identitätsentwicklung, indem sie die Orientierungsfunktion akademischen Wissens auf die Probe stellt. Wenn ich im Praktikum in der Schulsozialarbeit auf dem Pausenplatz eine akute Konfliktsituation antreffe, habe ich keine Zeit «den Glasl» oder «den Rosenberg» aus dem Regal zu holen. Ich muss unmittelbar entscheiden, ob und wie ich interveniere. Durch die Nachbesprechung der Situation mit meiner Praxisausbildenden können meine Handlungs- und Deutungsmuster erkannt und bearbeitet werden.

Es ist es wichtig, dass mein Handeln rückgebunden ist an meine reflektierte Vorstellung davon, was mich als Sozialarbeiterin ausmacht und woran ich mich in meinem Handeln orientiere.

Janine Lüscher
Janine Lüscher Wissenschaftliche Mitarbeiterin, BFH

Identitätsbildend ist, gemeinsam zu rekonstruieren, was mich auf dem Pausenplatz in der konkreten Situation geleitet hat. Das Selbstverständnis der Praxisausbildenden ist dabei elementar. Es ist wichtig, dass auch sie eigene Sichtweisen, Deutungen, Orientierungen und Interventionen offenlegen und zur Disposition zu stellen. Damit machen sie auch gelebte institutionelle Selbstverständlichkeiten diskutierbar.

Studierende selbst unterstützen die Entwicklung ihrer professionellen Identität, indem sie sich auf die Reise einlassen. Wenn ich darüber nachdenke, wie ich gestern auf dem Pausenplatz unter Zeitdruck gehandelt habe, stelle ich fest, meine Handlungen haben etwas mit meiner Haltung zu tun. Meine Haltung – stelle ich dann fest – hat etwas mit meinen Werten zu tun. Diese haben wiederum etwas damit zu tun, wo ich herkomme und wie ich aufgewachsen bin. Für unsere Studierenden sind eine solche Konfrontation und Auseinandersetzung mit den eigenen Einstellungen und Werten aus Kindheit und Jugend teils schwierige Prozesse, in denen sie ihre Komfortzone verlassen und eigene Vulnerabilität zulassen müssen.

Eine Frau mit Locken und Brille sitzt in einem Unterrichtsraum
Wenn ich im Praktikum in der Schulsozialarbeit auf dem Pausenplatz eine akute Konfliktsituation antreffe, habe ich keine Zeit «den Glasl» oder «den Rosenberg» aus dem Regal zu holen. Ich muss unmittelbar entscheiden, ob und wie ich interveniere, sagt Janine Lüscher.

Wie gelingt es auch nach Abschluss eines Studiums, das professionelle Handeln und die eigene Haltung weiterzuentwickeln?

Diese Frage ist elementar, denn professionelle Identitätsbildung ist nicht mit dem Bachelor-Diplom abgeschlossen. Es ist unumgänglich, sich weiterhin (selbst)kritisch mit professionellen und disziplinären Anforderungen und Fragen auseinanderzusetzen. Zu einer professionellen Praxis gehören zum einen Gefässe der Selbstreflexion wie Supervision und Intervision genauso wie eine Haltung des lebenslangen Lernens. Unterstützend dabei sind sicher Besuche von Tagungen, Weiterbildungen oder auch das Absolvieren eines weiterführenden Studiengangs (Master of Science).

Den Abschlusskompetenzen auf der Spur

Wer den Bachelor in Sozialer Arbeit absolviert, ist nach Abschluss des Studiums in zwölf professionellen Handlungskompetenzen fit (Kompetenzprofil). In verschiedenen Beiträgen gehen wir in den nächsten Monaten den Fragen nach, was unter diesen Kompetenzen zu verstehen ist, wie sich das «Kompetent-sein» in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zeigt und wie es durch die enge Verzahnung von Hochschulsemestern und Praxisausbildung gelingt, den Kompetenzerwerb zu unterstützen. Im Fokus dieses Beitrags stehen die Selbstreflexionskompetenz und die Professionskompetenz: Bachelor-Absolvent*innen können Soziale Arbeit als Disziplin und Praxis sowie die eigene Persönlichkeit, die eigenen Werte, das Lernen und Handeln verstehen und reflektieren und ein professionelles Handeln entwickeln.

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