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«Wir sind aufgerufen, unser Sterben zu gestalten»
03.10.2024 Die Menschen leben heute länger, und sie sterben auch länger. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten, das Lebensende zu gestalten. Forschende der BFH haben zum Thema ein Buch veröffentlicht.
Das Wichtigste in Kürze
- Menschen können sich heute vermehrt auf das Sterben vorbereiten.
- Das Lebensende ist gestaltbar.
- Forschende der BFH haben untersucht, wie sich das Sterben gestalten lässt.
- Die Ergebnisse ihrer Studie sind im Buch «Sterben gestalten» erschienen.
Ihr Buch heisst «Sterben gestalten.» Lässt sich das Sterben überhaupt gestalten? Oder sind es nicht vielmehr die Rahmenbedingungen?
Eva Soom Ammann: Sterben kann nicht nur, es muss sogar gestaltet werden. Der Umgang mit Sterben und Tod in unserer Gesellschaft verändert sich. Es gibt gegenwärtig weniger klare gesellschaftlich-kulturelle Vorgaben zum Tod als früher, insbesondere haben religiöse an Dominanz verloren. Säkularisierung und Individualisierung sind zwei Stichworte für diese Entwicklung.
Wir leben länger heute und sterben auch länger. Die Menschen können sich somit auf das Sterben vorbereiten, und sie müssen dies auch tun. Sowohl als Gesellschaft als auch als einzelne Menschen müssen wir uns zunehmend damit auseinandersetzen, was Sterben und Tod für uns bedeuten und wie wir damit umgehen wollen.
Zum Thema: Stadtfestival «Endlich menschlich» vom 19. bis 27. Oktober 2024
Die BFH ist Partnerin des Stadtfestivals «Endlich menschlich». Es ist dem Lebensende gewidmet und findet vom 19. bis 27. Oktober in Bern statt.
Auf dem Programm stehen vielfältige Anlässe, Ausstellungen und Projekte, vom Trauercafé über ein Mitmach-Kunstprojekt bis zu Friedhofspaziergängen und Führungen durch ein Krematorium.
Die BFH hat den Stadtrundgang «Leben im Blick, Ende in Sicht» mitentwickelt. Er findet am 22. Oktober um 13.30 und 15.30 Uhr statt. Die Autor*innen des Buches «Sterben gestalten» stellen ihr Werk an der Vernissage vom 24. Oktober um 19.30 Uhr in der Französischen Kirche Bern vor.
Wer gestaltet denn nun das Sterben wie und für wen?
Corina Caduff: Es gibt im Wesentlichen drei Gruppen: Sterbende, ihre Angehörigen und Bekannten sowie das Gesundheitsfachpersonal. Sterben findet in sozialen, kulturellen und räumlichen Kontexten statt. Zu Sterbesettings gehören sowohl materielle Aspekte wie beispielsweise Räume, Pflegeprodukte oder persönliche Gegenstände, als auch immaterielle Aspekte wie Vorstellungen, Sprache, Interaktionen, soziales Handeln.
Wir haben in unserem Forschungsprojekt untersucht, wie diese drei Gruppen miteinander interagieren und was sich dabei abspielt: Wie sprechen sie miteinander, was für soziale Handlungen gibt es, welche Funktion und Gestaltung haben die Pflegeobjekte, die sie dabei verwenden.
Was hat Sie veranlasst, mit einem Forschungsprojekt Sterbesettings zu untersuchen?
Eva Soom Ammann: Wir benutzen den Begriff des Sterbesettings, um das institutionelle Umfeld, in dem Menschen ihre letzte Lebensphase verbringen, mit seinen sozialen, kulturellen und räumlichen Bezügen in den Fokus zu stellen.
Indem wir auf Settings fokussiert haben, konnten wir interdisziplinäre Bezüge herstellen. Es gibt bereits Forschungsergebnisse zum Sterben in verschiedenen Disziplinen wie den Gesundheitswissenschaften, der Philosophie und Soziologie oder den Künsten. Unser Projekt hat hier verschiedene Blickwinkel vereint und damit neue Perspektiven eröffnet auf die Versorgungssettings, in denen gestorben wird – insbesondere auf das Setting Spital.
Sie haben nicht nur Pflege und Spiritualität in das Projekt einbezogen, sondern auch Sprache und Design. Warum?
Corina Caduff: Um Sterbesettings gesamthaft anschauen zu können, wollten wir den Rahmen öffnen und verschiedene Perspektiven einbringen. Beim Design von Pflegeprodukten bestand bis anhin eine Lücke. Die Produkte sind meist funktional für die Pflegepersonen, aber wenig annehmlich für die Patient*innen. Deshalb hat die Designerin Bitten Stetter im Rahmen unseres Projektes auf innovative Art und Weise neue Produkte entwickelt, zum Beispiel eine Box, die man im Bett gut greifbar verstauen und in der man Objekte wie etwa das Handy nah bei sich versorgen kann.
Welche Ergebnisse haben aus dem Forschungsprojekt resultiert?
Corina Caduff: Nebst den erwähnten neuen Pflegeprodukten hat Tina Braun, die in dem Projekt ihre Dissertation schreibt, prototypische Websites und Broschüren für die Palliative Care entworfen. Diese unterscheiden sich von den bisherigen, stark stereotypisierten Bildwelten der Palliative Care.
Ein anderes Ergebnis ist die Publikation «Ein letztes Buch» von 2023 mit Ausschnitten aus aktueller Sterbeliteratur: Seit den 2010er-Jahren entsteht ein neues autobiografisches Genre «Sterbeliteratur», in dem Schriftsteller*innen über ihre Sterbeerfahrung schreiben und damit ein bislang ungehörtes Repertoire an Sterbewissen zugänglich machen.
Eva Soom Ammann: Wir haben zudem aus der pflegerischen Perspektive angeschaut, wie die erwähnten Produkte in ein Sterbesetting hineinwirken, wie die palliative Versorgung damit umgeht und in welchen Kontexten sie ihre Leistungen erbringt.
Interessant ist dabei beispielsweise die Integration von Palliative Care in ein Spitalumfeld. Aus Effizienzgründen sind Abläufe und Produkte in einem Spital oft standardisiert, während die Palliative Care möglichst individuell handeln und sensitiv auf die Bedürfnisse der Patient*innen eingehen möchte. Die Praxen der palliativen Pflege entwickeln in diesem Spannungsfeld sehr kreative ad-hoc-Lösungen für konkrete Handlungsprobleme.
Welche Praktiken rund um das Sterben haben in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen und welche verloren?
Corina Caduff: Durch den medizinischen Fortschritt lässt sich das Sterben heute hinauszögern, wodurch sich der Prozess des Sterbens verlängert. Je länger die Sterbephase dauert, desto mehr sind wir dazu aufgerufen, diese zu gestalten und für sich und sein Umfeld die richtige Form des Abschiednehmens zu finden.
Viele Menschen haben sich in ihrem Alltag von der Religion abgewendet. Welche Rolle spielt sie beim Sterben?
Corina Caduff: Die Religion respektive die Transzendenz gewinnt an Bedeutung, wenn das Sterben näherrückt. Fragen wie «Wohin gehe ich?» oder «Ist der Tod tatsächlich das Ende oder kommt noch etwas anderes?» werden virulent. In der heutigen säkularen Welt gibt es keine gültigen religiösen Vorstellungen, an die wir uns am Lebensende halten können. Viel eher wird Spiritualität individuell und patchwork-mässig gestaltet, man klaubt sich zusammen, was für einen gerade stimmt – gerne auch temporär. Das Individuum ist auf sich selbst zurückgeworfen.
Lässt sich definieren, was gutes Sterben ist?
Corina Caduff: Das ist eine schwierige Frage, weil sie stark mit Moral durchsetzt ist und das Problem aufwirft, wer denn überhaupt die Deutungshoheit hätte, sie zu beantworten. Aus unserer Forschungsperspektive ist gutes Sterben ein aktiv gestaltetes Lebensende, bei dem Sterbende, Angehörige und Fachleute gut und kreativ miteinander arbeiten und kommunizieren. Sterben ist immer auch Leben.
Corina Caduff und Eva Soom Ammann
Prof. Dr. Corina Caduff und Prof Dr. Eva Soom Ammann sind zwei von neun Autor*innen des Buches «Sterben gestalten».
Corina Caduff ist Vizerektorin Forschung an der BFH. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen bei der Gegenwartsliteratur, beim Verhältnis der Künste und beim Thema Sterben und Tod.
Eva Soom Ammann ist Leiterin des Innovationsfeldes Psychosoziale Gesundheit im Departement Gesundheit der BFH. Ihre Schwerpunkte liegen bei den Themen Diversität und Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung, Langzeitpflege im Alter, Autonomie und Selbstbestimmung, Sterben und Tod sowie Palliative Care.
Weshalb haben Sie sich entschieden, ein Buch zum Thema herauszugeben?
Eva Soom Ammann: Wir wollten vielfältig «lesbar» sein und in einen Diskurs mit der Öffentlichkeit treten. Deshalb haben wir auch Bücher für ein breiteres Publikum publiziert, anstatt bloss wissenschaftliche Artikel zu veröffentlichen. Im Buch «Kontext Sterben» von 2022 brachten wir unsere Positionen mit jenen von Gastautor*innen zusammen. Und zum Schluss haben wir im neuen Buch «Sterben gestalten» interessante Ergebnisse aus dem Projekt interdisziplinär diskutiert und breit nachvollziehbar beschrieben. Wir betrachten das Buch auch als einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion.
Verbinden Sie mit dem neuen Buch eine Hoffnung?
Corina Caduff: Wir hoffen, mit dem Buch darauf hinzuweisen, dass man Sterben nicht nur passiv und elendiglich erleben muss. Es gibt aktive Gestaltungsmöglichkeiten, die das Lebensende annehmbarer machen, sodass man diesem auch lebenswerte Seiten abgewinnen kann.
«Sterben gestalten», Buchvernissage, 24. Oktober, 19.30 bis 21 Uhr, Französische Kirche Bern
Die frei zugängliche Version von «Sterben gestalten» findet sich hier.