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«Wir müssen noch mehr soziale Verantwortung übernehmen»
26.03.2025 «Es fehlt an altersgerechtem und bezahlbarem Wohnraum im eigenen Quartier», sagt Architektin Henriette Lutz, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Fachgruppenleiterin Entwurf und Gestaltung im Departement Architektur, Holz und Bau der BFH. Diverse Forschungsprojekte sollen helfen, neue Impulse zu setzen. Sie ist überzeugt, dass dafür Architekt*innen in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen und im Dialog mit den betroffenen Menschen noch mehr soziale Verantwortung übernehmen müssen.
Das Wichtigste in Kürze
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In der Schweiz fehlt es an altersgerechtem, bezahlbarem Wohnraum.
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Mit diversen Forschungsprojekten will die BFH selbstbestimmtes Leben im Alter fördern.
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Im Rahmen des Themenfelds «Caring Society» der BFH sollen Architekt*innen im Dialog mit Betroffenen noch mehr soziale Verantwortung übernehmen.
Haben Sie schon eine Vision, wie Sie im Alter leben möchten?
Henriette Lutz: Ich möchte gerne selbstbestimmt im urbanen Raum leben, an einem Ort, von dem ich zu Fuss meine täglichen Besorgungen machen und auch Freizeitangebote erreichen kann. Und natürlich möchte ich auch alle meine Freundinnen und Freunde in der Nähe haben.
Wie verändern sich die Bedürfnisse im Alter?
Diese Frage kann man nicht allgemein beantworten, das ist eine wichtige Erkenntnis unserer Forschung: Keine andere Lebensphase ist so divers wie das Alter. Längst nicht alle sind im Alter gebrechlich und krank, und man kann erst recht nicht sagen, wann solche Probleme allenfalls beginnen. Wenn es in der aktuellen Wohnung keinen Lift oder viele Schwellen gibt, kann das mit fortschreitendem Alter ein Grund für einen Umzug sein. Doch die Suche nach einer neuen bezahlbaren Wohnung im gleichen Quartier gestaltet sich herausfordernd. Darum verharren viele Menschen lange, vielleicht zu lange in ihrer Wohnung, die für sie unter Umständen viel zu gross ist und sich besser für Familien oder Wohngemeinschaften eignen würde.
«Die Suche nach einer neuen bezahlbaren Wohnung im gleichen Quartier gestaltet sich für ältere Menschen herausfordernd.»
Der Schweizer Wohnungsmarkt ist also auf die zunehmend älter werdende Gesellschaft nicht gut abgestimmt?
So allgemein lässt sich auch das nicht beantworten. Aber wie gesagt: In ihren Quartieren finden die Menschen oft keinen altersgerechten, bezahlbaren Wohnraum. Die Bereitschaft, das gewohnte Umfeld zu verlassen, ist im Alter sehr gering. Somit sind geeignete Wohnungen in einem anderen Teil der Stadt nur selten ein Anreiz zum Umzug. Insgesamt wurde der Fokus zu lange auf spezifische Alters- und Pflegeheime gelegt. Doch diese Wohnform kommt für die meisten älteren Menschen nur in Frage, wenn das Wohnen alleine wirklich gar nicht mehr funktioniert. Es dominiert das Bedürfnis, zu Hause alt werden zu wollen.
Wie kann die Forschung helfen?
Bei uns steht ein Forschungsprojekt in den Startlöchern, bei dem wir zusammen mit dem Departement Soziale Arbeit der BFH inklusives Wohnen im Bestand untersuchen. Es geht darum, bestehenden und somit günstigen Wohnraum zu sichern und barrierefrei zu gestalten – also mit Liften, ohne Schwellen oder mit ausreichend grossen Bädern. Davon profitieren nicht nur ältere Menschen, sondern auch Menschen mit Beeinträchtigungen, schwangere Frauen oder Familien mit kleinen Kindern. Das Projekt erhält bestehenden und somit auch preiswerten Wohnraum, womit die soziale Durchmischung der Siedlungen und Quartiere längerfristig gesichert werden kann. Aber barrierefreier und bezahlbarer Wohnraum reicht noch nicht aus, damit Menschen möglichst lange selbstbestimmt leben können.
«Wir haben eine inhaltliche Tiefe erreicht, die ohne die Mitwirkung der Betroffenen nicht möglich gewesen wäre.»
Was braucht es noch?
Mit bewegungsfördernder Architektur lässt sich die individuelle physische und psychische Gesundheit der Menschen länger aufrechterhalten, damit sie länger selbstbestimmt zuhause leben können. Ein entsprechendes Entwurfsatelier zu bewegungsfördernder Architektur haben wir im Herbstsemester 2024/25 zum ersten Mal interdisziplinär und departementsübergreifend mit Bachelorstudierenden der Architektur durchgeführt. Dabei haben wir unter anderem festgestellt, dass soziale Kontakte Auslöser für Bewegung und Mobilität sein können. Wir haben untersucht, wie man Menschen dazu motivieren kann, statt den Lift die Treppe zu nehmen. Die Lösung können zum Beispiel ästhetisch ansprechende Treppen sein, die soziale Kontakte fördern, Aneignung oder attraktive Ausblicke ermöglichen. Eine weitere Erkenntnis war, dass ein Teil der älteren Menschen eine eigentlich ungeeignete Wohnsituation nicht verlassen, weil sie ihre Haustiere nicht mitnehmen können oder ihren Garten nicht zurücklassen wollen. Also haben wir nach Möglichkeiten gesucht, um das Zusammenleben mit Tieren oder Möglichkeiten für Gartenarbeiten in kleinere und altersgerechte Wohnungen zu übertragen.
Zusammen mit Studierenden haben Sie dazu die Methode des «forschenden Entwerfens» angewandt. Was ist darunter zu verstehen?
Mit der Methode wird versucht, die Entwurfsarbeit in der Architektur zu verwissenschaftlichen und so konkretes Wissen zu generieren. Der Entstehungsprozess und verschiedene Variantenstudien leisten ebenso einen Beitrag wie das Entwurfsresultat. Beim Projekt zur bewegungsfördernden Architektur haben wir die konkreten Alltagsbedürfnisse der Menschen in den Fokus gestellt und daraus neue Wohntypologien entwickelt. Dazu haben wir intensiv mit dem Departement Gesundheit der BFH zusammengearbeitet. Und auch ältere Menschen als «Citizen Scientists» mit einbezogen: Es war wichtig, deren konkrete Bedürfnisse genau kennen zu lernen und dabei vielleicht auch eigene Vorurteile über Bord zu werfen. Wir haben der älteren Generation genau zugehört, wir haben nachgefragt und so eine inhaltliche Tiefe erreicht, die ohne die Mitwirkung der Betroffenen nicht möglich gewesen wäre.
«Das Leben in (generationenübergreifenden) Wohngemeinschaften sollte man viel stärker bewerben und erklären.»
Wie fliessen diese Erkenntnisse nun in die Praxis ein?
Wir suchen Praxispartnerschaften beispielsweise mit Genossenschaften oder der Stadt, um unsere Erkenntnisse punktuell und versuchsweise umsetzen zu können. Es kann sich zum Beispiel lohnen, bei einem Umbau eine zweite Erschliessungstreppe einzuplanen, die zwar zusätzliche Kosten generiert, aber soziale Kontakte und entsprechende Bewegungsmöglichkeiten bietet. Wir haben auch festgestellt, dass man die Attraktivität das «Cluster-Wohnens» in (generationenübergreifenden) Wohngemeinschaften viel stärker bewerben und erklären muss: Viele Menschen haben in ihrem Leben kaum Erfahrungen mit dem gemeinschaftlichen Wohnen gemacht und können sich das im Alter deshalb auch nicht vorstellen. In diesem Entwurfsatelier ist bei uns Lehrenden eine grundsätzliche Erkenntnis gewachsen, die uns in Zukunft beschäftigen wird.
Welche?
Dass wir als Architekt*innen mit dem Lösen konkreter Alltagsprobleme noch mehr soziale Verantwortung übernehmen müssen. Wir wollen dies in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen im Rahmen des Themenfelds «Caring Society» der BFH auch tun. Zentral ist dabei immer der direkte Dialog mit Betroffenen: Unsere Jahresausstellung «Alter & Raum – Lustvolle Perspektiven» hat sich der Frage gewidmet, wie Architektur und Gestaltung die Menschen in den verschiedenen Lebensphasen unterstützen können. Gerade an den Begleitveranstaltungen kam es dabei zu extrem spannenden Gesprächen mit Besucher*innen. Sie alle sind ja Wohnexpert*innen: Von ihren Erfahrungen müssen wir profitieren!