Forensic Nursing: Eine Absolventin des CAS berichtet über ihre Erfahrungen und Perspektiven

08.11.2023 Sabine Negri hat den CAS Forensic Nursing absolviert, um gewaltbetroffene Menschen professionell unterstützen zu können. Im Interview erzählt sie, warum das neue Wissen für ihren Berufsalltag zentral ist und wo sie Einsatzfelder für Forensic Nurses sieht.

Sabine Negri, warum haben Sie sich für den CAS Forensic Nursing in der Pflege entschieden?

Sabine Negri: Die Forensik hat mich schon immer interessiert, unabhängig von meinem Arbeitsgebiet. Durch Zufall bin ich auf dieses Angebot gestossen und habe viele Parallelen zu meiner jetzigen Arbeit gesehen. Ich bin Leiterin Pflege für die Bundesasylzentren der Region Bern. Wir haben täglich mit Menschen zu tun, die Gewalt erlebt haben, sei es aus früheren Erlebnissen, die sie in ihrem Rucksack mittragen, oder aus jüngerer Zeit. Für diese Situationen wünschte ich mir einen professionelleren Background.

Gab es Situationen, in denen Sie bei Ihrem Job an Grenzen stiessen?

Sabine Negri: Nicht unbedingt. Wir sind durch unsere Arbeit sehr sensibilisiert. Allen, die hier arbeiten, ist klar, dass Gewalterfahrungen ein Thema sind. Vom CAS habe ich mir vor allem weitere Hilfestellungen und Werkzeuge für mich und meine Mitarbeitenden erhofft – und auch erhalten. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie ich am besten in ein schwieriges Gespräch einsteige und habe neue hilfreiche Angebote und Stellen kennengelernt.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Forensic Nurses ein?

Sabine Negri: Gerade auf Notfallstationen kann das Wissen einer Forensic Nurse sehr wichtig sein. Mit dieser Rolle wird das Rad nicht neu erfunden – Gesundheitsfachleute werden für diese Themen sensibilisiert. Trotzdem ist es wichtig, dass sich die Fachpersonen in ihrem Handeln sicher fühlen. Beim Thema Gewalt bewegt man sich auch in einer Grauzone bezüglich des Datenschutzes: Was muss ich melden, was darf ich melden und wo melde ich es? Auch in anderen Bereichen ist das Hintergrundwissen einer Forensic Nurse wünschenswert. Auf einer Spitalabteilung zum Beispiel kommt der Beziehungsaspekt dazu. Die Pflegenden sind länger im Kontakt mit den Patient*innen, wodurch diese sich vielleicht eher öffnen.

«Beim Thema Gewalt ist es besonders wichtig, dass sich die Fachpersonen in ihrem Handeln sicher fühlen»

Sabine Negri Absolventin des CAS Forensic Nursing in der Pflege

Gibt es noch andere Einsatzfelder?

Sabine Negri: Ich sehe diverse Einsatzmöglichkeiten für Fachleute, die sich auf das Forensic Nursing spezialisieren – auch in meinem Bereich. Als Pflegefachperson sind wir die ersten und oft einzigen Ansprechpersonen für die Asylsuchenden. Sie kommen mit ihren Beschwerden und Anliegen zu uns und wir schauen, was wir selbst managen können und wann es eine ärztliche Einschätzung braucht. 
Wir haben auch über Gewalt an älteren Menschen gesprochen. Ein Thema, das leider oft tabuisiert wird. Dabei geht es nicht immer nur um körperliche Gewalt, sondern zum Beispiel auch um die Bevormundung und Isolierung älterer Menschen, etwa durch pflegende Angehörige. Dies ist ein Bereich, auf den eine Pflegefachperson der Spitex aufmerksam werden kann. Denn sie sieht noch am ehesten hinter die Haustüre.

Sind Sie jetzt die Ansprechperson für Forensic Nursing in Ihrem Team?

Sabine Negri: Schon aufgrund meiner Leitungsfunktion kommen die Mitarbeitenden bei komplexen Situationen auf mich und die Co-Leiterin zu. Seit ich den CAS gemacht habe, stellen sie mir vermehrt Fragen zum Thema. Sie fragen, ob ich noch einen Tipp habe oder noch an einen Aspekt denke, den sie nicht auf dem Schirm hatten. Nicht alles, was wir im CAS gelernt haben, war komplett neu. Wir Pflegefachpersonen haben ja bereits einen themenbezogenen Hintergrund und Erfahrungen. Aber der Studiengang hat meinen Horizont definitiv erweitert.

Was ist Ihnen vom CAS besonders in Erinnerung geblieben?

Sabine Negri: Die Zahlen und Fakten zum Thema häusliche Gewalt waren besonders beeindruckend. Es ist erschreckend, wie verbreitet diese ist. Im Kurs haben wir das Thema ausführlich behandelt, zum Beispiel aus der Perspektive der Beratung, von Mitgliedern der Opferhilfe-Stellen oder aus der Perspektive der Polizei, die gezeigt hat, wie sie mit Gefährder*innen umgeht.

Ein schwer verdauliches Thema. Wie war das für Sie?

Sabine Negri: Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Für mich persönlich war es so, dass die Inhalte dem entsprachen, was ich erwartet hatte. Das liegt sicher auch daran, dass ich in meinem Berufsalltag genug sehe, höre und erlebe. Die meisten meiner Kurskolleg*innen arbeiten in der Psychiatrie oder bei der Spitex. Einige haben mehr mit gewaltbetroffenen Menschen zu tun als andere, aber die meisten bringen ihre Erfahrungen mit. Die Dozierenden sind mit viel Feingefühl ans Thema herangegangen.

Haben Sie auch praktisch geübt?

Sabine Negri: Ja, wir haben zum Beispiel anhand von fiktiven Beispielen und Fotos geübt, wie man Wunden beschreibt. Dokumentation ist sehr wichtig: Wie muss ich dokumentieren, damit es auch gerichtlich verwendet werden kann? Es ist eine Frage der Übung, die richtigen Worte zu finden. Gerade wir Pflegenden neigen dazu, zum Beispiel sofort von einem Hämatom zu sprechen. Es geht aber darum, zu beschreiben und nicht zu interpretieren.

«Wir haben mit professionellen Schauspieler*innen geübt. Wenn es näher an der Realität ist, hat es einen anderen Lerneffekt.»

Sabine Negri Absolventin des CAS Forensic Nursing in der Pflege

Kommunikation ist ein wichtiger Teil des Studiengangs. Wurde das auch geübt?

Sabine Negri: Wir hatten die Möglichkeit, mit professionellen Schauspieler*innen zu üben. Die Schauspielerin spielte eine von Gewalt betroffene Person. Wir wurden beobachtet, wie wir mit der Situation umgehen und wie wir das Gespräch führen: Sind wir einfühlsam, aber auch nicht zu vage? Bleiben wir aufmerksam, um Hinweise zu erkennen? Rollenspiele liegen mir eigentlich nicht so. Aber ich habe festgestellt, dass es sehr wichtig ist, mit einer professionellen Schauspielerin zu üben und nicht nur untereinander. Wenn es näher an der Realität ist, hat es einen anderen Lerneffekt.

Wem empfehlen Sie den CAS?

Sabine Negri: Der CAS ist für alle Gesundheitsfachpersonen interessant. Meiner Meinung nach eignet sich die Weiterbildung besonders für Fachpersonen, die schon etwas länger im Beruf sind. Das heisst aber nicht, dass nicht auch frisch diplomierte Pflegefachpersonen profitieren können. Aber durch den Rückblick hatte ich viele Aha-Erlebnisse. Ich konnte meine Erfahrungen mit dem neuen Wissen verknüpfen, dadurch habe ich umso mehr profitiert.

Was wenden Sie heute konkret in der Praxis an?

Sabine Negri: Was wir sehr aktiv eingebaut haben, ist das offene Ansprechen. Ich ermuntere meine Mitarbeitenden, aktiv auf die Asylsuchenden zuzugehen, wenn sie eine Vermutung haben oder wenn sie Konfliktsituationen, z. B. innerhalb einer Familie, wahrnehmen. Wir gehen auf die Menschen zu, beraten sie und zeigen auf, welche Hilfsangebote es gibt. Wir fragen nach, ob sie Entlastung brauchen, z. B., ob eine alleinerziehende Mutter Unterstützung bei der Kinderbetreuung braucht. Nicht immer wird die angebotene Hilfe angenommen. Dann ist es wichtig, diese Entscheidung zu respektieren und auszuhalten. Das Ansprechen ist auch eine Handlung. Ich signalisiere damit: Ich nehme Sie wahr, ich höre Ihnen zu, ich bin da.

Über Sabine Negri

«Vor 18 Jahren habe ich die Ausbildung zur Pflegefachfrau gemacht und in verschiedenen Bereichen Erfahrungen gesammelt. Seit 2017 arbeite ich im Bundesasylzentrum und seit drei Jahren leite ich zusammen mit einer Kollegin den Bereich Pflege der Asylregion Bern auf Bundesebene. Im Moment gibt es in der Region Bern sechs Zentren und wir sind für deren Pflegeabteilungen zuständig. Die Pflege in einem Bundesasylzentrum ist anders als auf einer Spitalabteilung. Die Asylsuchenden kommen bei uns an und wir sind die ersten Ansprechpersonen, die ihnen den Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen. Wir führen ein Anamnesegespräch, um eine erste gesundheitliche Einschätzung vorzunehmen. Wir wollen wissen, ob wir etwas für die Menschen aufgleisen müssen: Zum Beispiel Medikamente organisieren, Risikoeinschätzungen bezüglich Tuberkulose, Diphterie etc. und ob weitere Abklärungen notwendig sind. Während der Zeit, in der die Asylsuchenden auf der Bundesebene sind, bleiben wir ihre Ansprechpersonen für sämtliche medizinischen Anliegen und Fragen. Wir koordinieren, triagieren und stellen die Notfallversorgung sicher. Und wir sind dafür verantwortlich, dass diese Prozesse in den verschiedenen Zentren einheitlich ablaufen.»

Sabine Negri
Sabine Negri leitet mit einer Kollegin den Bereich Pflege der Asylregion Bern auf Bundesebene. Bild: BFH

Event

1. Regionaltreffen Forensic Nurses Kanton Bern

Wann: 13. Juni 2024; 09.00 – 11.00 Uhr
Wo: Schwarztorstrasse 48, Bern

Anmeldung via E-Mail:

Mehr erfahren

Fachgebiet: Gesundheit, Gesundheitstechnologien + Public Health, Pflege