«Wir haben den Kursteilnehmenden mehr zu geben als Studien und Fachwissen»

03.04.2023 BFH-Dozentin Manuela Grieser und Erfahrungsexpertin Nicole Amrein unterrichten seit einiger Zeit gemeinsam, so auch im Fachkurs «Adherencetherapie». Im Interview erzählen sie von ihren Erfahrungen mit dem Co-Teaching.

Im sechstägigen Fachkurs über die «Adherencetherapie» geht es darum, dass Patient*innen eigene Ziele tatsächlich erreichen können, indem sie mit dem Behandlungsteam gemeinsame Wege finden. Kursleiterin Manuela Grieser bringt die Fachperspektive ein, während Nicole Amrein ihre Erfahrung als Person mit Krankheitserfahrung beiträgt. Im Interview mit Anita Schürch erzählen die beiden, wie sie ihre Zusammenarbeit erleben und sich ihr Co-Teaching im Laufe der Zeit entwickelt hat.

Soeben habt ihr einen Tag lang gemeinsam unterrichtet. Ihr bringt unterschiedliches Wissen und andere Zugänge zum Thema mit. Erzählt mal, wie funktioniert euer Co-Teaching?

Manuela Grieser: Ich kann mich während des Unterrichts immer wieder an Nicole wenden und sie direkt fragen: «Nicole, wie hast denn du das erlebt? Wie ist das für dich?» Ihre Antworten haben eine ganz andere Wirkung, als wenn ich einfach erzählen würde. Ich kann die Perspektive von Nicole ja auch gar nicht haben. Neu übernimmt sie im Kurs auch einzelne Sequenzen. Wir simulieren während den sechs Kurstagen ein ganzes Therapieprogramm und jeder Kurstag ist gleich aufgebaut. Wir starten mit einem Intro und etwas Spielerischem. Danach reflektieren wir, was seit dem letzten Mal passiert ist. Nicole übernimmt jetzt den kompletten Einstieg.

Nicole Amrein: Mir macht das Spass, damit kann man spielen und die Leute etwas herauslocken.

Manuela Grieser: In diesem Kurs hat Nicole erstmals auch Fachliches beigetragen. Heute hat sie zum Beispiel das Tool «Kreatives Schreiben» angeleitet. Das hat natürlich auch etwas mit ihr und ihrer Erfahrung als Autorin zu tun.

Nicole Amrein: Oder ich zeige Achtsamkeits- und Meditationsübungen.

Manuela Grieser: Also Techniken, die Nicole in ihrem Leben selbst anwendet und ausprobiert. Das ist auch authentisch, wenn sie das anleitet. Bei mir wäre es nicht das Gleiche, da ich es nicht selber praktiziere.

Nicole Amrein: Was ich auch recht häufig einsetze, sind eigene Kurztexte von früher. Auch wenn ich aufgrund meiner Krankheit keine Bücher mehr schreiben konnte, war dies eine Textform, die immer noch funktionierte. Diese Texte erzählen sehr genau, was ich damals spürte.

Dann noch zu unseren Rollen in der Zusammenarbeit: Grundsätzlich ist für mich ganz klar, dass Manuela im Unterricht den Lead hat. Sie ist die Kursleiterin, sie unterrichtet – und ich bin neben ihr. Das ist so und das möchte ich auch so. Ich möchte nicht von ihr Inhalte übernehmen, die ich dann unterrichte. Ich bin die, die aus der Erfahrung schöpft. Ich kann nicht gleichzeitig Erfahrung und Fachwissen vermitteln. Das geht für mich nicht.

Und wie reagieren die Kursteilnehmenden darauf, dass auch eine Person mit Krankheitserfahrung unterrichtet?

Manuela Grieser: Die Reaktionen sind immer sehr positiv. Die Kursteilnehmenden sind wahnsinnig dankbar für Nicole und ihre Rolle hier. Wir machen im Kurs auch viele Rollenspiele. Nicole spielt die Klientin, z.B. beim Medikamenten-Assessment. Bei anderen Themen wechseln wir die Rollen. Beim Medikamenten-Assessment können wir aber von Nicoles Erfahrung mit der Einnahme von Psychopharmaka besonders profitieren, da würde es nicht Sinn machen, die Rollen zu tauschen.

Nicole Amrein: Ich habe mit solchen Medikamenten tatsächlich viel Erfahrung. Ich kann also von erlebten Nebenwirkungen erzählen, zum Beispiel von einem Kreislaufkollaps oder einer Krise während der Zugfahrt. Wenn ich ganz offen erzähle, wie es für mich war, dann prägt sich das den Teilnehmenden vielleicht auch besser ein.

Manuela Grieser: Es gab dann auch schon Rückmeldungen von den Teilnehmenden, die erschrocken sind. Die Berichte machen emotional etwas mit ihnen. Es war manchmal vielleicht ein bisschen viel. Aber das muss man ihnen auch zutrauen. Wenn man mit Erfahrungsexpert*innen arbeitet, dann kann das auch mal passieren.

Gibt es weitere Lernerfahrungen, die ihr mitnehmt?

Manuela Grieser: In der Vergangenheit kam es tatsächlich vor, dass sich Kursteilnehmende angegriffen fühlten, wenn Nicole mal was Negatives über die Pflegenden gesagt hat. Sie verteidigen dann ihren Berufsstand. Da muss man eben auch wieder vorsichtig sein. Aber das Phänomen gibt es auch, wenn z.B. jemand aus der Forschung unterrichtet und ein Forschungsprojekt zum Thema Fixation und Zwangsmassnahmen vorstellt. Sitzen da lauter Fachpersonen, dann fühlen die sich manchmal auf den Schlips getreten. Das ist kein typisches Problem mit Peers. Es kann immer auftreten, wenn etwas kritisch betrachtet wird.

Nicole Amrein: Ich erinnere mich, wie ich am Anfang beim Thema Suizidalität auch von eigenen Suizidversuchen erzählte – und zwar sehr detailliert: Womit, wann, wie genau. Heute würde ich das nicht mehr tun: Einerseits aus Rücksicht auf die Studierenden, das löst bei ihnen sehr viel aus. Andererseits fühlte ich mich nach einem solchen Kurstag selbst sehr leer, da ich so viel von mir preisgegeben hatte. Ich bin heute vorsichtiger und mir auch bewusst, dass man mit seinen Erzählungen die anderen erschrecken oder belasten kann. Wenn ich erzähle, dass ich auf der geschlossenen Abteilung war und zwei Tage fixiert wurde, dann schockiert das.

Manuela Grieser: Ja, manchmal muss ich mich auch zurücknehmen. Heute gab es zum Beispiel ein paar sensible Momente, wo ich dachte: «Ah Mist, jetzt habe ich zu schnell den Lead ergriffen. Ich hätte es auch mal laufen lassen können.» Es erfordert sehr hohe Achtsamkeit und Präsenz zu spüren, wann ich eingreifen muss und wann ich es einfach laufen lassen kann. Beim Kreativen Schreiben hatten wir heute so eine Situation. Nicole fragte die Teilnehmenden nach Sätzen. Es kamen spannende Antworten, die ich dann sofort mit Theorie verknüpfte. Wenn ich mich dort zurückgehalten hätte, wäre es vielleicht intensiver geworden. Ein nächstes Mal werde ich es anders versuchen. Es ist ein stetes Ausprobieren, es sind Wellenbewegungen: Wo muss man sich zurücklehnen, wo wieder ein bisschen vor, wo steht der Kurs gerade im Prozess?

Was sind für euch Gelingensbedingungen, damit der Einbezug von Erfahrungswissen im Unterricht gut funktionieren kann?

Nicole Amrein: Es braucht Dozentinnen wie Manuela (lacht)! Nein, im Ernst: Sie ist offen, sie ist empathisch, sie ist da. Ich weiss genau, wenn mir nichts in den Sinn kommt, dann springt sie ein und übernimmt. Ich habe absolutes Vertrauen zu ihr.
Bei Erfahrungsexpert*innen ist es wichtig, dass sie nicht mehr in der akuten Phase sind. Diese sollten sie bereits hinter sich gelassen und auch reflektiert haben. Sonst ist es qualvoll, wenn du immer wieder davon eingeholt wirst und noch keine Distanz hast zu deiner Geschichte.

Manuela Grieser: Umsicht und Flexibilität sind Grundvoraussetzungen, um kooperativ zusammenzuarbeiten. Man muss dynamisch sein. Wenn du alles vorplanen willst und ein hohes Sicherheitsbedürfnis hast, ist es nicht möglich, kooperativ zu arbeiten.
Deutlich aufwändiger ist die Zusammenarbeit mit Erfahrungsexpert*innen aus administrativ-organisatorischer Sicht. Ihre Lebensläufe sind anders, man kann sie nicht einfach als Dozent*innen «einschleusen». Du musst diese Zusammenarbeit ständig verteidigen und mehr Energie aufwenden, um diese im System leben zu lassen. Noch ist sie dort nicht mitgedacht. Du musst immer überlegen und kreativ sein, damit sie überhaupt möglich wird.
Manchmal ergibt sich auch die Möglichkeit, dass jemand einen Kurs besucht und später als Erfahrungsexpert*in mitarbeitet. Oder ich organisiere mit ihnen Stipendien, was sehr viel Arbeit macht. Das mache ich freiwillig in meiner Freizeit, weil ich die Sache wichtig finde.

Warum ich so dahinterstehe: Ich sehe, dass das Co-Teaching mit Erfahrungsexpert*innen funktioniert. Ich merke, dass wir dadurch den Kursteilnehmenden mehr zu geben haben als Studien und Fachwissen. Weil es sie mehr berührt, emotional offener macht und die Teilnehmenden damit auch lernfähiger werden. Sie nehmen mehr mit. Und verstehen hoffentlich danach ihre Klient*innen auch besser.

Vielen Dank euch beiden für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg und Freude beim gemeinsamen Unterrichten.

Interview: Anita Schürch

Fünf Fragen an Manuela Grieser und Nicole Amrein

Manuela Grieser und Nicole Amrein

Manuela Grieser (links im Bild)

leitet den Bereich Weiterbildung Pflege der BFH Departement Gesundheit in den Schwerpunkten Pflegetherapeutische Interventionen und Organisationsentwicklung/ Changeprozesse.

Nicole Amrein

ist Autorin. Sie wirkt als Co-Dozentin mit eigener Krankheitserfahrung bei diversen Fachkursen des Departements Gesundheit der BFH, Weiterbildung Pflege mit.

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Fachgebiet: Pflege, Gesundheit, Gesundheitstechnologien + Public Health