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Selbstbestimmt sterben: An der Grenze unserer Möglichkeiten
14.12.2023 Sterben ist im Alltag nur selten ein Thema. Eva Birkenstock und Corina Caduff erzählen, warum das so ist und wie Forschung in der heutigen Zeit eine Orientierungshilfe sein kann.
Unsere Gesellschaft hat ein vielschichtiges Verhältnis zu Sterben und Tod. Einerseits ist der Tod sehr präsent: So kommt kaum ein Krimi ohne Mord, kaum eine Serie ohne actiongeladene Todesfälle aus. Es gibt Reality-TV-Shows mit Sterbenden, Sterbeblogs und Festivals zum Tod.
Und doch sind viele Menschen überrascht, wenn sie mit dem Sterben konfrontiert sind. «Die meisten Menschen wissen nach wie vor nur wenig darüber, wie sich Sterben vollzieht und welches Leid es generiert», erzählt Corina Caduff. Sie hat im BFH-Projekt «Sterbesettings» Sterbeliteratur von Schriftsteller*innen untersucht.
Sterbende sind unsichtbar
Diese Überraschung kommt nicht von ungefähr. Denn trotz der Omnipräsenz in Unterhaltung und News wird das Sterben im eigenen Umfeld gern verdrängt: Wer stirbt, verschwindet aus dem gesellschaftlichen Alltag – oft schon lange vor dem physischen Tod.
Erst durch Fortschritte in der Medizin, durch Hygiene, soziale Sicherheit und Frieden ist es überhaupt möglich, dass der Tod im Alltag praktisch unsichtbar wird. «Dass wir den Tod derart zurückdrängen können, ist eine grosse Errungenschaft», sagt Eva Birkenstock, die sich in ihrer Forschungsarbeit bei der BFH täglich mit den ethischen Fragen rund ums Lebensende beschäftigt. «Heute müssen wir diese Verdrängung korrigieren und die Sterblichkeit als eine alle Menschen verbindende Verletzlichkeit wieder anerkennen und als eine Quelle existentieller Solidarität begreifen», fügt sie hinzu.
Zu viel Freiheit, zu viel Zwang
Die meisten Menschen möchten ihr Lebensende zu Hause verbringen, also in ihrem gewohnten Umfeld bleiben. Aber auch fürs Umfeld der Sterbenden kann es positiv sein, wenn das Sterben in der eigenen Stube passiert. Das weiss Corina Caduff aus ihrer Arbeit: «Wenn man den Tod ins Leben integrieren kann, verliert er an Schrecken.»
Wer das Sterben im eigenen Umfeld zulässt, lernt seine Angehörigen noch einmal neu kennen und erhält die Möglichkeit, Erinnerungen festzuhalten. Oft sind Sterbende besonders ehrlich und offen. «Im Austausch mit Sterbenden lernt man, dass echte menschliche Nähe ein guter Weg dazu ist, das Leiden zu vermindern», erzählt Eva Birkenstock.
Zahlen zum Tod in der Schweiz
- 200: Über 200 Menschen sterben im Jahr 2022 jeden Tag in der Schweiz. (Quelle: Statista)
- 1391: So viele assistierte Suizide gab es 2021 in der Schweiz. (Quelle: Bund)
- 72%: Über 70 Prozent der Schweizer*innen wünschen sich, zu Hause sterben zu können (Quelle: Bevölkerungsbefragung Palliative Care 2017)
In ihrer Arbeit sieht Corina Caduff immer wieder, dass Sterbenden heute eine Anleitung fehlt, wie sie mit ihrer Vergänglichkeit spirituell umgehen können: «Man muss sich die Deutungen selbst zusammensuchen in einer Welt der Patchwork-Religionen.» Spirituell leiden Menschen heute unter einem Überfluss an Optionen, die ebenso leicht gewählt wie verworfen werden können. «Ein stabiler Trost kommt heutzutage durch spirituelle Erwägungen kaum zustande», erklärt Corina Caduff.
Ganz anders kann es aussehen, wenn es um die gesundheitliche Betreuung von Sterbenden geht. Aus ihren Untersuchungen der Sterbeliteratur weiss Caduff, dass sterbenden Patient*innen im heutigen Gesundheitssystem viel zu wenig aktiver Gestaltungsraum eingeräumt wird.
Selbstbestimmt ans Ende
Das muss sich ändern, darin sind sich Caduff und Birkenstock einig. «Im Zusammenhang mit Entscheidungen am Lebensende wäre es gut, wenn es immer nur um das Dürfen, also um die Freiheit gehen würde», führt Eva Birkenstock aus.
Die Disziplin der Palliative Care hat diesbezüglich eine Vielzahl an Lösungsansätzen hervorgebracht. Dabei geht es immer darum, dass sterbende Menschen selbstbestimmt und mit hoher Lebensqualität ihr Lebensende gestalten können. Dazu gehören neben der medizinischen Pflege auch Beratung und spiritueller Beistand.
Kartenset Assistierter Suizid
Im Kontext von Sterben und Tod stellen sich immer wieder Fragen, auf die gute Antworten fehlen. Kathy Haas, BFH-Alumna und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Alter, hat deshalb zusammen mit der Designerin Selina Fässler ein Kartenset zum Thema Assistierter Suizid erarbeitet. Mit ihrer Masterarbeit hat Kathy Haas wertvolle wissenschaftliche Vorarbeit geleistet. Selina Fässler entwickelte im Rahmen ihres Bachelor-Studiums bereits Kartensets zu anderen tabuisierten Themen. Mit dem Set zum assistierten Suizid zeigen die beiden, wie man das Schweigen zum schwierigen Thema brechen kann. Kathy Haas verfasste die Texte in einfacher und klarer Sprache und Selina Fässler illustrierte passend.
Als Gesellschaft sollten wir Sterbenden ihre persönliche Freiheit in Bezug auf ihr Lebensende gewährleisten, ist Eva Birkenstock überzeugt. Wenn sich also jemand zu einem assistierten Suizid entscheidet, gilt es, diesen Wunsch zu akzeptieren, sofern andere Interessen ausgeschlossen werden können. «In einem säkulären Staat gehört unser Leben uns und wir dürfen darauf verzichten», meint sie, was aber nicht heisst, dass so eine Entscheidung und ihre Unterstützung ethisch gesehen einfach wäre.
Wissenschaft als gemeinsame Basis
Die ehrliche, fakten- und wissensbasierte Kommunikation von Forschung zum Lebensende könne dazu beitragen, die Angst vor dem Sterben zu mindern, ist Eva Birkenstock überzeugt. Denn sie ermutige Menschen dazu, sich mit der eigenen Endlichkeit und Verletzlichkeit auseinanderzusetzen.
Die Forscherin betont aber auch, dass unser Wunsch danach, das eigene Sterben zu gestalten, immer ein Privileg bleibt. Es ist ein Privileg, das uns durch höhere Gewalt jederzeit entzogen werden kann. «Bei aller Planung, Vorsorge und Vorbereitung auf den Tod», erklärt sie, «bewegen wir uns hier an der absoluten Grenze unserer Möglichkeiten.»