- Forschungsprojekt
Adoptionen 1973–2002 der Kantone Zürich und Thurgau: Kinder aus Indien
Mit dem Ansatz «Zusammenbringen, was getrennt wurde» befasst sich ein Forschungsteam im Auftrag der Kantone Zürich und Thurgau mit der Aufarbeitung von nationalen und internationalen Adoptionen.
Steckbrief
- Institut(e) Institut Kindheit, Jugend und Familie
- Forschungseinheit(en) Institut Kindheit, Jugend und Familie
- Förderorganisation andere
- Laufzeit (geplant) 02.08.2022 - 31.12.2024
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Projektleitung
Prof. Dr. Andrea Abraham
Prof. Dr. Rita Kesselring
Lic. phil. Sabine Bitter -
Projektmitarbeitende
Dr. Nadine Gautschi
Asha Narayan Iyer M.A. -
Partner
School of Humanities and Social Sciences SHSS-HSG
Departement für Inneres und Volkswirtschaft des Kantons Thurgau
Direktion der Justiz und des Inneren Kanton Zürich - Schlüsselwörter Inlandadoption, Auslandadoption
Ausgangslage
2021 haben die Regierungen der Kantone Zürich und Thurgau beschlossen, die Adoptionspraxis in ihren Kantonen im Zeitraum 1973–2002 wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die Forschung soll klären, unter welchen Umständen die internationalen und nationalen Adoptionen stattfanden und inwiefern es dabei zu Unregelmässigkeiten kam.
Ziele
Das Projekt beleuchtet die Adoptionen aus Indien, welches mit Sri Lanka als bedeutendste Herkunftsländer von Adoptivkindern für Familien in den Kantonen Zürich und Thurgau galten. Wir untersuchen den rechtlichen Kontext und die Aufsichtspraxis der Kantone und gehen der Frage nach, inwieweit und warum inländische Adoptionen im Untersuchungszeitraum durch Adoptionen von ausländischen Kindern «ersetzt» wurden. Dem so genannten Adoptionsdreieck wird besondere Beachtung geschenkt, indem erstmals auch die Perspektive der leiblichen Mütter im Herkunftsland Indien und der Adoptiveltern in der Schweiz einbezogen werden.
Vorgehen
Die Recherche in Indien konzentriert sich auf den Bundesstaat Maharashtra und dort auf die Hauptstadt Mumbai (früher Bombay), da diese Stadt ein wichtiger Knotenpunkt der internationalen Adoptionsvermittlung war. In der Schweiz wurden umfangreiche Quellenstudien in den relevanten Archiven geleistet. Dabei konnten erstmals zahlreiche Einzelfalldossiers von aus Indien adoptierten Kindern eingesehen werden. Dies wurde ergänzt durch biografisch-narrative Gespräche mit adoptierten Personen und Adoptiveltern in der Schweiz, mit ethnografischen Recherchen in Indien und mit Interviews mit Expert*innen in beiden Ländern aus den Bereichen Recht, Medizin und Soziale Arbeit. Dies soll dazu beitragen, den Erkenntnisstand zu verbessern, der für viele Kantone und bezüglich zahlreicher Herkunftsländer noch ungenügend ist.
Ergebnisse
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts geben Einblick in ein bisher kaum untersuchtes Kapitel der internationalen Adoption als Form der Fremdplatzierung. Zwischen 1979 und 2002 wurden schweizweit 2278 Kinder aus Indien adoptiert. Davon entfielen 256 Kinder auf den Kanton Zürich und 30 Kinder auf den Kanton Thurgau. Die Vermittlungen liefen hauptsächlich über römisch-katholische Verbindungen in Indien.
Die Ergebnisse zeigen ein komplexes Geflecht, das von einem unerfüllten Kinderwunsch von Ehepaaren, finanziellen Interessen, einer fraglicher Rechtspraxis, mangelhaftem Kinderschutz und von Behördenversagen geprägt war. Das Stigma der kinderlosen Ehe in der Schweiz und das Stigma der unehelichen Mutterschaft in Indien schufen ein Feld von Nachfrage und Angebot, das auch von finanziellen Interessen durchzogen war. Die Schweizer Behörden waren über zahlreiche Fälle von problematischen bis rechtswidrigen Adoptionsvermittlungen aus Indien informiert und konstituierten diese mit. Unser Forschungsbefund wirft die Frage auf, wie es um die Rechtsgültigkeit von Adoptionsentscheiden steht, die unter solchen Bedingungen getroffen wurden. Und schliesslich können Kindswegnahmen und das Verschwindenlassen von Kindern nicht ausgeschlossen werden, wenn Kinder ohne Nachweis ihrer Herkunft zur Adoption gegeben wurden.
Unzureichende Aufsicht
Die Aufsicht über die Vermittlungsstellen war unzureichend. Der Kanton Thurgau kam seiner Aufsichtspflicht über den 1980 in Kreuzlingen gegründeten Verein Adoption International nach. Bei den ersten vereinsinternen Auseinandersetzungen im Jahre 1982 verlangte die Aufsichtsbehörde Rechenschaft. Kurz darauf zog Adoption International in den Kanton Bern um. Das Jugendamt des Kantons Zürich nahm seine Aufsichtspflicht nicht wahr: Es liess zu, dass Christina Inderbitzin jahrelang, von 1978 bis Anfang 1984, ohne Bewilligung indische Kinder in die Schweiz vermittelte. Auch war es über das wegweisende Urteil des Obergerichts in Bombay (heute Mumbai) informiert, das ihrem Kooperationspartner in Indien kein gutes Zeugnis ausstellte. Trotzdem erteilte das Jugendamt Christina Inderbitzin 1984 die Bewilligung für die Vermittlung aus Indien. Insgesamt waren 15 Schweizer Vermittlungsstellen in Indien tätig, manche davon jahrelang ohne Bewilligung. Die Schweizer Behörden waren dabei mit zahlreichen Missständen konfrontiert.
Die Lage in Indien
Ab den 1960er-Jahren etablierte sich in Indien die internationale Adoption als spezifische Form von Fremdplatzierung. Kinderheime und Frauenhäuser nahmen Kinder von Privatpersonen, der Polizei oder Spitälern entgegen und übergaben sie an Schweizer Adoptionsvermittler*innen oder an Privatpersonen. Die Adoption entwickelte sich für sie zu einer lukrativen Einnahmequelle: Zwischen Schweizer Vermittlungsstellen und indischen Institutionen gab es finanzielle Vereinbarungen. Erstere leisteten Unterstützungsbeiträge, und letztere sicherten ihnen im Gegenzug Kinder zu.
Missbrauch und Skandale in den 1980er-Jahren führten in Indien zu kritischen Diskussionen der internationalen Adoption und zu Restriktionen und neuen Standards. Trotzdem behielten die indischen Institutionen (adoptionsvermittelnde Einrichtungen, Anwälte und Gerichte) grossen Einfluss, was sich beispielsweise an ihrem Umgang mit der Herkunftsgeschichten der Kinder und den Angaben zu den leiblichen Eltern zeigte. Die Herkunft der Kinder wurde in den Dokumenten, welche in die Schweiz gelangten, nur ungenau oder mit Standardsätzen wie «Mutter unbekannt» beschrieben. Die Einverständniserklärungen der Mütter wurden in keinem der untersuchten Fälle in die Schweiz mitgereicht.
Die leiblichen Mütter: unbekannt und unsichtbar
So wie die leiblichen Mütter aus den Dokumenten verschwanden, so taten sie dies auch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung: Über die Perspektive der leiblichen Mütter, die sich von ihren Kindern trennten, wurde und wird unter Akteur*innen im indischen Adoptionswesen weitgehend geschwiegen. Die Gründe dafür werden bei den Müttern selbst angesiedelt: Das Schweigen schütze sie in ihrem Leben, welches sie seit der Trennung von ihrem Kind führen.
Um diese Argumentation zu verstehen, benötigt es den Blick in die Gründe der Trennungen. Sie waren vielfältig. Als zentraler Grund ist die sozial geächtete, ledige Mutterschaft hervorzuheben. Daneben spielten aber auch Armut, Krankheit oder das weibliche Geschlecht des Kindes eine Rolle. Frauen wurden zu ledigen Müttern, weil sie gesellschaftlich nicht akzeptierte Liebesbeziehungen eingegangen waren, denen etwa religiöse Gründe oder spezifische Kastenzugehörigkeiten entgegenstanden. Weitere Gründen waren gebrochene Eheversprechen, Vergewaltigungen, und erschwerte Zugänge zu Abtreibungen.
Obschon es Institutionen gab, in denen ledige Mütter Hilfe erhielten, so war diese an die Trennung von ihrem Kind gekoppelt. Der meistbegangene Weg zur sozialen Rehabilitation nach der Trennung von ihren Kindern war eine arrangierte Heirat. Mit der Trennung von ihren Müttern begann für die Kinder in Indien das Leben in einer oder mehreren Institutionen. Kam es zur Vermittlung mit einem adoptionswilligen ausländischen Ehepaar, erlebten sie nicht selten eine umfassende Orientierungslosigkeit.
Adoptiveltern und adoptierte Personen: Herausforderungen
Zürcher und Thurgauer Ehepaare adoptierten ein Kind primär wegen Kinderlosigkeit, familialen Idealvorstellungen oder aus humanitären Gründen. Indien als Herkunftsland war (aber in der Regel) kein Kriterium. Die Adoptivfamilien bekamen wenig Unterstützung von Gesundheits- und Bildungsinstitutionen und waren mit Bindungsproblemen und Rassismuserfahrungen weitgehend auf sich gestellt. Wenn sich ihre Kinder für ihre Herkunft interessierten, standen ihnen meist nur lückenhafte Informationen oder inkohärente Angaben zur Verfügung. Mach(t)en sie sich (heute/später) als Erwachsene auf den Weg, um mehr über ihre leiblichen Eltern herauszufinden, scheitern viele zusätzlich am Informationsmonopol der Vermittlungsstellen und an den geschlossenen Archiven indischer Gerichte. Dazu kommt die rechtliche und moralische Frage, ob das Recht von Kindern auf Herkunftswissen höher zu gewichten ist als das Recht bzw. der vermutete Wille der Mütter auf Anonymität.
Empfehlungen (Auswahl)
- Die Rechtmässigkeit von Adoptionsentscheiden, die ohne vorliegende Verzichtserklärungen der indischen Eltern bzw. Mütter getroffen worden sind, wird grundsätzlich überprüft. Für die adoptierten Personen darf dies nicht mit Nachteilen verbunden sein. Eine institutionalisierte, interdisziplinär zusammengesetzte Taskforce überprüft auf Anfrage von adoptierten Personen Dokumente und unterstützt die Herkunftssuche.Die Schweiz klärt mit Indien, wie Betroffene Einsicht in ihre indischen Gerichtsakten bekommen können, um ihr Recht auf Herkunftswissen geltend zu machen.
- Schweizer Adoptionsvermittlungsstellen werden gemeinsam mit ihren angegliederten Hilfswerken und Stiftungen von den Aufsichtsbehörden aufgefordert, ihre Finanzflüsse offenzulegen. Die Aufsichtsbehörden kommen ihrer Pflicht nach, die Aktenbestände der Vermittlungsstellen zu sichern, wenn diese ihre Tätigkeit beenden.
- Die Schweiz lässt Adoptionen von Kindern nur noch aus Staaten zu, die das Haager Adoptionsübereinkommen und die Kinderrechtskonvention ratifiziert haben und nachweisen können, dass Frauen ihre reproduktiven Rechte durchsetzen können und eine Wahlfreiheit haben.
- Ein nationales Forschungsprogramm (NFP) leistet eine vertiefte länderspezifische Aufarbeitung internationaler Adoptionen. Auch gegenwärtige Reproduktionspraktiken wie Leihmutterschaft und weitere Formen der Familienbildung mit ihren transgenerationalen Folgen werden untersucht.