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Schulsozialarbeiterin: «Wir gehen bei Kindesschutzfällen heute systematisch vor.»

02.09.2024 Neben Schüler*innen suchen sich auch Lehrpersonen und Schulleitende bei der Schulsozialarbeit Rat, etwa wenn sie bei Kindern Auffälligkeiten beobachten, die auf Belastungen in der Familie hindeuten. Schulsozialarbeiterin Sophie Rudin berichtet.

Das Wichtigste in Kürze

  • Schulsozialarbeitende haben bei potenziellen Kindeswohlgefährdungen den Auftrag, die Situation des Kindes einzuschätzen. 

  • Allenfalls leiten sie Schritte ein, um das Kind und seine Familie zu unterstützen.

  • Sie arbeiten dabei mit Lehrpersonen und der Schulleitung zusammen.

  • Sophie Rudin hat im CAS Schulsozialarbeit dazu Hilfsmittel kennengelernt, die sie beizieht, um bei einem Verdacht professionell zu handeln. 

Im Rahmen Ihrer Abschlussarbeit haben Sie die im CAS vermittelten Instrumente an den Kontext der Schulsozialarbeit in Ihrer Stadt adaptiert. Warum?

Sophie Rudin: Ich arbeite mit anderen Schulsozialarbeitenden in Grenchen. Die Stadt verfügt über mehrere Schulkreise.

Vor der Einführung der neuen Instrumente ist jeder Schulkreis bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung anders vorgegangen. Es gab keine einheitlichen Abläufe für solche Situationen.

Dies hat mich motiviert, ein spezifisches Konzept für die Schulen unserer Stadt zu entwickeln. Dieses sollte das Vorgehen bei potenziellen Kindesschutzfällen regeln.

Sophie Rudin - Schulsozialarbeiterin in Grenchen

Sophie Rudin ist Schulsozialarbeiterin in Grenchen (Kanton Solothurn). Sie absolvierte einen Bachelor in Sozialer Arbeit. Im Mai 2023 hat sie den CAS Schulsozialarbeit an der BFH abgeschlossen.

Das Interview fand im Mai 2024 statt.
 

Sie haben im Rahmen Ihrer Abschlussarbeit einen Fall analysiert. Können Sie uns den schildern? 

Ja gerne. Ich werde die Fallkonstellation leicht verändern, um Rückschlüsse auf reale Personen zu verhindern.

Angewendet habe ich die Einschätzungshilfe bei einem elfjährigen Mädchen mit Migrationshintergrund. Das Mädchen lebt mit seiner Mutter und mehreren Geschwistern zusammen.

Vor einigen Jahren hatte die Schule betreffend eines der Geschwister des Mädchens eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eingereicht. In der Folge wurde für das Geschwister eine Kindesschutzmassnahme angeordnet.

Nach einem Schicksalsschlag in der Familie fehlte die Elfjährige häufig im Unterricht und ihre Schulleistungen, die bisher sehr gut waren, verschlechterten sich deutlich. Das Mädchen war offensichtlich psychisch belastet.

Der CAS hat mich motiviert, mehr Struktur in die Schulsozialarbeit unserer Stadt zu bringen. Es war wertvoll, das Gelernte zeitnah in der Praxis umsetzen zu können.

Sophie Rudin
Sophie Rudin Schulsozialarbeiterin in Grenchen
Sophie Rudin in einem Schulzimmer
Schulsozialarbeiterin Sophie Rudin arbeitete mit der Einschätzungshilfe, die sie im CAS Schulsozialarbeit kennengelernt hat.

Weshalb haben Sie gerade in diesem Fall eine Einschätzung durchgeführt?

Ich habe ihn ausgewählt, weil er aufgrund seiner Vorgeschichte sehr komplex ist.

Ich wäre rück­blickend gerade in solchen Fällen froh gewesen, ein Konzept für ein klares und strukturiertes Vorgehen zur Hand zu haben.

Wie sind Sie konkret vorgegangen? 

Die Schülerin war für mehrere Beratungsgespräche bei mir. Dabei konnte ein erster Beziehungsaufbau stattfinden.

Ich konnte sie dafür gewinnen, ihre Mutter zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen.

Durch die Gespräche erhielt ich weitere wertvolle Informationen über die familiäre Situation, dass beispielsweise die Mutter psychisch belastet ist.

Nach einem weiteren gemeinsamen Gespräch mit der Mutter, dem Mädchen und der Klassenlehrperson habe ich mit der Einschätzungshilfe das Risiko einer Kindeswohlgefährdung beurteilt.

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Welche Schlüsse konnten Sie ziehen?

Das Ergebnis deutete auf einen orangen Fall hin. Orange bedeutet gemäss Einschätzungshilfe, dass ein erheblicher Hilfebedarf vorliegt, jedoch noch keine Gefährdungsmeldung an die KESB angezeigt ist.

Die Einschätzungshilfe zeigt mir ferner auf, welche Rolle und Verantwortlichkeiten ich bei einem orangen Fall habe und welches die nächsten Schritte sind. Zu diesen gehört, die Schulleitung über die Situation zu informieren.

Die Fallführung blieb weiterhin bei mir. Mit der Mutter wurde vereinbart, dass sie sich Hilfe beim zuständigen Sozialdienst holt, wo sie bereits früher Unterstützung erhalten hatte. Diese Vereinbarung hielt die Mutter jedoch nicht ein.

Die Situation des Mädchens verbesserte sich nicht. Deshalb wurde der Fall nochmals mit der Einschätzungshilfe beurteilt. Nun ergab das Ergebnis einen roten Fall. Das bedeutet, dass eine Gefährdungsmeldung an die KESB nötig ist.

Sophie Rudin steht im Gang in ihrer Schule in Grenchen.
Schulsozialarbeiterin Sophie Rudin konnte die Schülerin dafür gewinnen, ihre Mutter zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen.

Wie hat sich die Situation weiterentwickelt, und welche Rolle hatten Sie nach der Gefährdungsmeldung?

Es zeigte sich, dass die Mutter Mühe bekundete, sich selbst beim Sozialdienst zu melden.

Sie war im Nachhinein dankbar, dass die Schule den Schritt zur Gefährdungsmeldung getan und dadurch den Kontakt zur KESB und zum Sozialdienst hergestellt hatte.

Eine sozialpädagogische Familienbegleitung unterstützte die Familie danach intensiv.

Ich bin zu einer Schnittstelle zwischen der Schule und dem Sozialdienst geworden und habe in Zusammenarbeit mit dem Sozialdienst eine psychologische Begleitung für das Mädchen organisiert.

Ich stehe noch heute in regelmässigem Austausch mit dem Sozialdienst. 

Was waren die besonderen Herausforderungen in diesem Fall?

Weil die Familie in der Vergangenheit bereits mit Kindesschutzmassnahmen in Berührung gekommen war und Angst vor einer erneuten Gefährdungsmeldung hatte, war eine besonders behutsame Arbeitsweise nötig.

Die Herausforderung war vor allem, die Beziehung zum Mädchen und zur Mutter nicht zu verlieren und gleichzeitig das Kindeswohl im Auge zu behalten. 
 

Gibt es Auswirkungen des CAS auf Ihr Handeln, die Sie jetzt, rund ein Jahr nach dem Abschluss der Weiterbildung, erkennen?

Der CAS hat mich motiviert, mehr Struktur in die Schulsozialarbeit unserer Stadt zu bringen.

Es war wertvoll, das Gelernte zeitnah in der Praxis umsetzen zu können.

Rund ein Jahr danach stelle ich fest, dass wir bei potenziellen Kindesschutzfällen standardisiert und systematisch vorgehen und dabei relevante Zwischenschritte nicht vergessen gehen. 

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