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Den digitalen Informationsfluss in der Pflege optimieren
12.09.2024 Die Digitalisierung verändert die Art und Weise, wie in der Pflege klinische Patienteninformationen ausgetauscht werden. Das Departement Technik und Informatik der BFH (BFH-TI) hat mit der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung die Informationsweitergabe und -dokumentation analysiert – und zahlreiche Möglichkeiten für Optimierungen gefunden.
Text: Mike Sommer
Wer sich im Spital behandeln lässt, sieht sich von vielen Fachpersonen umgeben und betreut. Ärzt*innen, Anästhesist*innen, Physiotherapeut*innen, Sozialberater*innen, Ernährungsberater*innen, Pfleger*innen – die Liste liesse sich beliebig erweitern. Je nach Behandlung sind verschiedene Berufsgruppen involviert. Sie alle halten im klinischen Informationssystem getroffene Massnahmen, verordnete Medikation, gemachte Beobachtungen oder Rückmeldungen der betreuten Person fest. Für das Wohlbefinden und die Genesung der Patient*innen ist es unerlässlich, dass diese Informationen korrekt erfasst, weitergegeben und an anderer Stelle entgegengenommen werden.
Informationsweitergabe im Wandel
«70 bis 80 Prozent dieses Informationsflusses wird im stationären Bereich heute digital abgewickelt», schätzt Thomas Bürkle, Professor für Medizininformatik an der BFH-TI. Die elektronische Patientenakte ist das Instrument, das die «Papierwirtschaft» immer mehr ablöst. In den Spitälern sind die Informationen allerdings nicht auf einer einheitlichen Datenplattform abgelegt. Sie verteilen sich auf die unterschiedlichen Systeme der einzelnen Abteilungen. Und es gibt auch noch den gedruckten oder handschriftlichen Zettel in der Hosentasche, der die wichtigsten Informationen zu den Patient*innen enthält, für die eine Pflegefachperson in ihrer Schicht zuständig ist – ein typischer Medienbruch, der wertvolle Arbeitszeit beansprucht und fehleranfällig ist. «Ideal wäre es, wenn die Pflegenden auf einem mobilen Gerät stets Zugriff auf alle Informationen hätten», sagt Thomas Bürkle. «So weit sind wir noch nicht.»
Die zunehmende Digitalisierung im Gesundheitswesen ändert jedenfalls die Art und Weise, wie Pflegeteams kommunizieren und Informationen entgegennehmen oder weitergeben. Welche Auswirkungen hat das in der beruflichen Praxis der Pflegenden? Wie beeinflusst der Einsatz digitaler Hilfsmittel und klinischer Informationssysteme den Informationsfluss? Dies herauszufinden ist wichtig, um die Qualität der Versorgung sicherzustellen und Behandlungsfehler zu vermeiden. Zudem hat es Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung der Pflegefachpersonen, die mit den digitalen Hilfsmitteln arbeiten. Es stellt sich die Frage, mit welchen neuen Kompetenzanforderungen sie konfrontiert sind.
Im Zentrum steht die Berufsrealität der Pflegefachpersonen
Um diese Wissenslücken zu schliessen, haben die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB) und das Institut für Medizininformatik (I4MI) der BFH-TI das Projekt «Digi-Care – Digitalisierung und Weitergabe klinischer Informationen in der Pflege» durchgeführt. Nach fast vier Jahren wurde es Anfang 2024 abgeschlossen. Finanziert wurde es im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 77 «Digitale Transformation».
Bei Digi-Care ging es nicht darum, die Qualität der Pflege und der digitalen Hilfsmittel an den sechs untersuchten Spitalabteilungen in der Deutschschweiz und im Tessin zu vergleichen und zu bewerten. Vielmehr wurde untersucht, wie Pflegefachpersonen die Nutzung digitaler Hilfsmittel wahrnehmen. Dies geschah im Rahmen einer Studie an den Spitälern. Dabei wurden 24 Pflegefachpersonen bei ihrer Arbeit begleitet und gefilmt. Später hatten sie Gelegenheit, die Aufnahmen zu kommentieren und zu erklären, wie sie bestimmte Situationen erlebt hatten. Auf diese Weise gelang es, typische Situationen der Informationsweitergabe mit digitalen Hilfsmitteln zu identifizieren und zu analysieren. «Wir haben insgesamt 179 IT-Ereignisse dokumentiert, in denen wir ein technisches Optimierungspotenzial erkannten», bilanziert Thomas Bürkle. Mögliche Verbesserungen könnten technischer oder ablauforientierter Natur sein. Zudem spielen die digitalen Kompetenzen der Pflegefachpersonen eine wichtige Rolle.
Prototypen von technischen Lösungen und Lerninstrumenten entwickelt
Im Rahmen des Projekts Digi-Care war es nicht möglich, für alle erkannten Lücken oder Konfliktsituationen Lösungen zu erarbeiten, die im Spitalalltag oder in der Aus- und Weiterbildung Pflege umgesetzt werden können. Für ausgewählte IT-Ereignisse entwickelten die Forschenden der BFH und der EHB aber Prototypen von technischen Lösungen, um die Gebrauchstauglichkeit digitaler Hilfsmittel und Abläufe zu verbessern. Entwickelt wurden zudem Lerninstrumente für die Aus- und Weiterbildung von Pflegefachpersonen. Ein solches Lerntool ist ein interaktives 360°-Video. Mit einer 3D-Brille kann man sich in einer Spitalumgebung bewegen und die Dienstübergabe von zwei Pflegefachpersonen beobachten. Dabei lassen sich durch Anklicken von Icons zusätzliche Informationen, Aufgaben und Fragen aufrufen. Dazu kommen Lernsituationen zu fünf Schlüsselmomenten der Weitergabe und Dokumentation klinischer Patienteninformationen. Anhand von realistisch beschriebenen Situationen können Pflegefachpersonen damit ihre Kompetenzen verbessern.
Technische Lösungen basierend auf den Erkenntnissen aus Digi-Care liegen in Form von Demonstrationsmodellen («Mockups») einer digitalen Pflegearbeitsliste und einer präoperativen Checkliste vor. Zudem wurden Fall- und Arbeitsablaufbeschreibungen erstellt, mit denen aufgezeigt wird, wie ein lückenloser Informationsfluss in ausgewählten Situationen mit IT-Tools optimal bewältigt werden kann.
Nächster Schritt virtuelle Lernumgebung
Nach dem Abschluss des Projekts überlegt sich Thomas Bürkle die Entwicklung einer weiteren Anwendung, die auf den Erkenntnissen von Digi-Care aufbaut. Ihm schwebt eine virtuelle Lernumgebung vor, die mehr Möglichkeiten für die Aus- und Weiterbildung bietet als das interaktive 3D-Video. Für ihre Entwicklung würde er ein weiteres Kompetenzzentrum der BFH-TI mit ins Boot nehmen: das Labor für Computerwahrnehmung und virtuelle Realität des Instituts Human Centered Engineering (HuCE).