Rat für Armutsfragen in der Schweiz

19.06.2024 Erst mit kontinuierlichen Strukturen kann die Beteiligung Armutsbetroffener in der Armutspolitik nachhaltig Wirkung erzielen. Ein BFH-Forschungsteam hat deshalb gemeinsam mit Armutserfahrenen und Fachpersonen für das Bundesamt für Sozialversicherungen einen Vorschlag erarbeitet für einen Rat für Armutsfragen.

Armutserfahrene und Fachpersonen beraten gemeinsam über den Rat für Armutsfragen
Armutserfahrene und Fachpersonen beraten gemeinsam über den Rat für Armutsfragen

Alle Menschen und unterschiedliche Perspektiven in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen, gilt als Grundlage demokratischer Prozesse. Der Zugang zu diesen politischen Prozessen ist für armutserfahrene Personen jedoch erschwert. Ihre Anliegen, Perspektiven und Erfahrungen als gesellschaftliche Gruppe in Entscheidungsfindungen einzubringen ist dabei besonders herausfordernd.  Kinder und Jugendliche oder Menschen mit Beeinträchtigungen beispielsweise werden durch Lobbying-Organisationen vertreten. Armutserfahrene Personen dagegen verfügen aktuell nicht über passende Strukturen, ihre Anliegen kollektiv in politische, gesellschaftliche oder auch wissenschaftliche Diskurse einzubringen. Das bedeutet: 700‘000 armutsbetroffene Personen (BFS Bundesamt für Statistik 2024a) sowie 1,3 Millionen armutsgefährdete Personen (BFS Bundesamt für Statistik 2024b) können ihre Stimme nur ungenügend in die Politik der Schweiz einbringen.

«Die Umsetzung des Rats hat im Kontext Schweiz einen starken Pioniercharakter.»

Vor diesem Hintergrund erteilte die Nationale Plattform gegen Armut des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) einem interdisziplinären Team der Berner Fachhochschule BFH und der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg den Auftrag, in einem Beteiligungsprozess einen Vorschlag zu erarbeiten, wie eine ständige Beteiligungsstruktur von armutserfahrenen Menschen und ihren Organisationen in der Schweiz etabliert werden kann. Der Vorschlag wurde gemeinsam mit armutserfahrenen Personen und relevanten Akteur*innen und auf der Grundlage passender methodischer Ansätze in einem dreistufigen Vorgehen auf den Schweizer Kontext angepasst. 

  • Zu Beginn wurden die bestehenden ständigen Beteiligungsstrukturen in anderen Ländern identifiziert und analysiert. 
  • Daraufhin wurde ein partizipativer Prozess unter Mitwirkung von armutserfahrenen Personen, Betroffenenorganisationen sowie, in beratender Funktion, von Fachleuten aus verschiedenen armutsrelevanten Bereichen der Verwaltung und der Sozialen Arbeit durchgeführt. 
  • Schliesslich wurde auf dieser Basis ein umsetzbarer Vorschlag für eine ständige Beteiligungsstruktur in der Schweiz: der «Rat für Armutsfragen in der Schweiz» entwickelt.

Wie sind armutsbetroffene Personen aktuell vertreten?

Wie nötig dieser Auftrag ist, zeigt die bestehende Situation. In der Schweiz existieren unterschiedliche Interessengruppen und Angebote von und für armutserfahrene Personen (z.B. ATD Vierte Welt, Workfair 50+, Verein Surprise), die Armutserfahrene in ihren Fähigkeiten fördern. Sie unterstützen alltagsnah oder anwaltschaftlich und bringen ihre Anliegen in sozialpolitische Gremien ein (z.B. Kundenkonferenz der Sozialhilfe in Basel). Die Beteiligung der Zielgruppen begrenzt sich aber grösstenteils auf regionale Entscheidungsprozesse und es kommt nur in seltenen Fällen zu interkantonalen oder nationalen Aktionen.

Die Nationale Plattform gegen Armut hat seit 2019 unterschiedliche nationale Forschungs- und Praxisprojekte auf Bundesebene gefördert (Müller de Menezes und Chiapparini 2021; Chiapparini et al. 2020). Beispielsweise werden die Fähigkeiten armutserfahrener Personen gestärkt oder sozialen Organisationen blinde Flecke in ihren Abläufen aufgezeigt. Der damit verbundene Perspektivwechsel fördert eine verständnisvollere Kooperation in schon bestehenden Prozessen zwischen armutserfahrene Personen und Fachpersonen.

«Stigma- oder Ausschlusserfahrungen armutserfahrener Personen führen oft zu Schamgefühlen, selbst wenn die eigene Lebenssituation mehrheitlich strukturelle Ursachen hat.»

Dagegen bestehen Projekte mit Beteiligungsprozessen in der Schweiz nur vereinzelt. In politischen Debatten, zum Beispiel zur Teuerung, wird sichtbar, dass die Gesellschaft zum Thema Armut sensibilisiert werden sollte, um Schuldzuweisungen, verzerrten Bildern und Vorurteilen zu begegnen. Diese Stigma- oder Ausschlusserfahrungen armutserfahrener Personen führen oft zu Schamgefühlen, selbst wenn die eigene Lebenssituation mehrheitlich strukturelle Ursachen hat, wie z.B. wirtschaftliche, sozialpolitische oder bildungspolitische Dynamiken. Kontinuierliche Strukturen, um sich selbstermächtigend in die Diskussion einzubringen, sind also dringend nötig.

Wie kann der Rat für Armutsfragen strukturiert werden? Bild vergrössern
Illustration zum Funktionieren des Rats für Armutsfragen

Rat für Armutsfragen in der Schweiz

Der partizipativ erarbeitete Entwurf für einen Rat für Armutsfragen in der Schweiz sieht vor, eine ständige Beteiligungsstruktur armutsbetroffener Personen in der Schweiz zu verwirklichen. Der Vorschlag basiert auf den diskutieren und weiterentwickelten Grundelementen aus der Literaturanalyse und den Workshopinhalten. 

In Workshops wurden fünf zentrale Kernelemente für den Rat erarbeitet: Ziele, Mitglieder, Adressat*innen, Funktionsweise, Ressourcen und Finanzierung. Primär werden die Ziele des Rates darin gesehen, die grosse Gruppe der armutserfahrenen Personen vermehrt in die Diskussion und Gestaltung der schweizerischen Armutspolitik einzubeziehen und ihr eine kollektive Stimme für ihre Anliegen und Vorschläge zu geben. Der Rat hat zum Ziel, Entscheidungsträger*innen aus Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft zu beraten oder ihnen Vorschläge zur Weiterentwicklung der Armutsprävention und -bekämpfung zu unterbreiten. Gleichzeitig soll er den Austausch zwischen armutserfahrenen Menschen, Fachpersonen und anderen Akteur*innen in der Politik oder Verwaltung fördern sowie die Öffentlichkeit zum Thema Armut sensibilisieren.

Der Rat besteht aus beschlussfähigen armutserfahrenen Mitgliedern sowie aus beratenden Mitgliedern, die ihre jeweiligen Fachexpertisen dem Rat zur Verfügung stellen. Die beschlussfähigen Mitglieder halten mehrmals jährlich gemeinsame Treffen ab und nehmen Stellung zu aktuellen Themen oder organisieren jährliche, öffentliche Veranstaltungen zur Integration einer breiten Vertretung von armutsbetroffenen Personen. Die Finanzierung sowie die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen sollen in einem ersten Schritt auf Bundesebene ermöglicht werden.

Wie und ob eine ständige Beteiligungsstruktur für armutsbetroffenen Personen in der Schweiz umgesetzt werden kann, ist Gegenstand aktueller politischer Debatten. Der Vorschlag des Rats für Armutsfragen in der Schweiz wurde zuhanden des Bundesrates verfasst und eingereicht. Der Gesamtbericht sowie ein Kurzbericht wurden publiziert (Chiapparini et al. 2024).

Die Ziele des Rates für Armutsfragen

Es ist für den öffentlichen Diskurs und nicht nur für politische Entscheidungsprozesse grundlegend, die Perspektiven und Erfahrungen armutsbetroffener Personen konsequent einzubeziehen. Nur auf dieser Grundlage können ihrer Bedürfnisse und ihr Erfahrungswissen in politische Entscheidungsfindungsprozesse einfliessen und die Armutsbekämpfung und -präventionen weiterentwickelt werden (z.B. ATD Vierte Welt 2023; Chiapparini et al. 2020). Diese Forderungen drücken sich auch in den Zielen des Rats aus, die von allen Teilnehmenden der Workshops erarbeitet wurden. Die Ziele beschreiben klar, dass der Rat für armutsbezogene Fragestellungen konsultiert werden soll. Gleichzeitig will der Rat aktiv eigene Themen und Vorschläge in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einbringen, den Austausch zwischen unterschiedlichen Akteur*innen fördern und an politischen Entscheidungen mitwirken. Schliesslich soll die Öffentlichkeit sensibilisiert und dazu mobilisiert werden, sich mit der Thematik Armut auseinanderzusetzten. 

Im Entwurf des Rats für Armutsfragen in der Schweiz sind die notwendigen Eckpunkte definiert. Zusätzlich ist in einem weiteren Beteiligungsprozess zusammen mit armutserfahrenen Personen und den jeweiligen Akteur*innen aus der Armutspolitik weiterentwickelt werden. So ist beispielsweise zu definieren, über welche Kanäle und in welchen Gefässen der Austausch und die Beteiligung mit unterschiedlichen Gremien und Akteuren aufgebaut werden kann.

Partizipation als Grundlage des Vorschlags

Wichtig für den Vorschlag war auch der partizipative Ansatz seiner Entstehung: Auf der Basis der empirischen Grundelemente wurde in einem mehrteiligen partizipativen Entwicklungsprozess die ständige Beteiligungsstruktur für den Kontext Schweiz diskutiert und erarbeitet. Dazu wurden die Expertisen von armutserfahrenen Personen sowie Fachpersonen aus den Bereichen Politik, Soziale Arbeit und Verwaltung eingeholt. In einer Kickoff- Veranstaltung wurde die Anlage und das Ziel des Gesamtprojektes festgelegt sowie die empirischen Ergebnisse aus der Literaturanalyse dargelegt, diskutiert und gewichtet. Den Kern der partizipativen Erarbeitung bildeten die anschliessenden zwei Workshops in Bern (deutsch) und Fribourg (französisch) sowie ein gemeinsamer Workshop in Biel (zweisprachig), an dem sowohl armutserfahrene Personen als auch Fachexpert*innen die Grundelemente einer ständigen Beteiligungsstruktur verdichteten. Begleitend zum Gesamtprozess wurde das Projektteam von einer Feedbackgruppe mit acht armutserfahrenen Personen unterstützt, die zusätzlich zur Erarbeitung der Grundlagen auch Feedback zum Beteiligungsprozess gaben und beim Verfassen des Schlussberichtes mitarbeiteten. Durch das partizipative und niederschwellige Vorgehen wurde es möglich, die Perspektive von rund 50 armutserfahrenen Personen sowie 15 Fachpersonen in die Ausarbeitung der ständigen Beteiligungsstruktur zu integrieren.

Eine weitere Motivation: Positive internationale Erfahrungen

Ein Grund, den Armutsrat vorzuschlagen, sind Erfahrungen aus anderen Ländern mit erfolgreicher Partizipation. Der Einbezug armutserfahrener Personen über ständige Beteiligungsstrukturen ist in Europa, insbesondere in Nachbarländern der Schweiz, weit verbreitet und schon länger ein fester Bestandteil gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Die Strukturen haben verschiedene Bezeichnungen und sind den jeweiligen Kontexten angepasst. So ermöglicht die belgische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung zum Beispiel den Dialog verschiedener Entscheidungsträger*innen sowie armutserfahrenen Personen und erreicht dadurch eine gemeinsame Bearbeitung relevanter sozialpolitischer Themen. Ähnliche Wirkpotentiale können auch in der französischen Struktur 5éme Collège des CNLE beschrieben werden, welche zusätzlich zur Kooperation noch Effekte einer Kompetenzerweiterung aller am Prozess beteiligten Personen feststellt. Diese und weitere Erkenntnisse aus der Analyse von insgesamt 15 internationalen Beteiligungsstrukturen dienten als Grundlage des vorliegenden Vorschlags für die Schweiz. Die Machbarkeit und Umsetzbarkeit des Vorschlags wird aus sechs empirisch begründeten Grundelementen (Ziele, Mitglieder, Adressat*innen, Funktionsweise sowie Ressourcen und Finanzierung) abgeleitet, welche als Grundstruktur für die partizipative Erarbeitung eines Vorschlages mit armutserfahrenen Personen sowie Fachpersonen dienten.

Ständige Beteiligungsstrukturen in der Schweiz verwirklichen?

Evaluationen zu internationalen Beteiligungsstrukturen deuten darauf hin, dass eine vermehrte politische Teilhabe armutsbetroffener Personen erreicht werden kann. Gleichzeitig können positive Effekte für ein Empowerment auf kollektiver und individueller Ebene (Herriger 2020) beobachtet werden. Die Umsetzung des Rats hat im Kontext Schweiz einen starken Pioniercharakter: Es wäre ein symbolisches Zeichen zur Anerkennung der Lebensweltexpertise armutserfahrener Personen seitens der Politik und dass Armut ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Aufgrund von Erfahrungen aus anderen Ländern haben solche Strukturen besonders hohe Legitimität, wenn sie von den zuständigen politischen Stellen (z.B. Bundesrat) unterstützt und in Auftrag gegeben werden. Wodurch eine erfolgreich Umsetzung begünstigt wird.

Literatur

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