Zugehörigkeit fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher

15.02.2023 Fast nebenbei entwickeln Kinder, die in der Herkunftsfamilie aufwachsen, das psychologisch bedeutende Gefühl, einem Ort oder einer Gruppe zugehörig zu sein. Für Gleichaltrige, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, wird dasselbe zur Herausforderung. Was können digitale Hilfsmittel hier bewirken? Dies erforscht eine erste qualitative Langzeitstudie der Schweiz.

Legofiguren

«Ich war in so vielen Bettchen, dass ich bis heute nicht weiss, wo ich überall gewesen bin. Ich wusste nicht, wo ich bin, ich wusste nicht an welchem Ort, in welchem Haus, in welchem Bett ich war».

(Regula, die von ihren Erfahrungen in Pflegefamilien und Heimen in den 1960er und 1970er-Jahren erzählt)

Junge Menschen, die in Schweizer Institutionen der stationären Erziehungshilfe wie in Kinder- und Jugendheimen und Pflegefamilien aufwachsen, erleben persönliche Abbrüche. Das beschreiben und belegen zahlreiche sozialwissenschaftliche Befunde (z. B. Bombach et al., 2019; Osswald, 2021; Werner et al., 2018). Allerdings fehlt es an vollständigen kantonalen oder nationalen Statistiken, die über die Anzahl fremdplatziert lebender Kinder und Jugendlicher und deren erlebten Wechsel Auskunft geben (Fellmann et al., 2020). Ein verfügbares Beispiel macht aber die Dimension deutlich: Die Daten des Kantons Bern aus dem Jahr 2021 zeigen, dass jedes fünfte Kind ungeplante Wechsel und Beendigungen seiner Fremdplatzierung erlebt.

Trotz begrenzt vorhandener Zahlen zeigen also die Forschungslage und der Fachdiskurs, dass Mehrfachunterbringungen und brüchige Beziehungen häufige Phänomene einer Fremdplatzierung sind. Diese Wechsel der Betreuungssituation gehen mit sozialen, räumlichen und sozialpädagogischen Abbrüchen einher. Ergänzend dazu bestehen oft Informations- und Erinnerungslücken (Gassmann, 2013; Wiemann & Lattschar, 2013). Wie aktuelle Studienergebnisse zeigen, können derartige Erfahrungen sowohl biografische als auch transgenerationale Folgen haben (Abraham & Steiner, 2022). Bestehende Forschungsergebnisse zeigen auf, wie wichtig es für ein gelingendes Aufwachsen fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher wäre, Kontinuität und Kohärenz zu erleben. Das heisst zum einen, dass sie unterstützende soziale Beziehungen erleben, die die Wechsel überdauern. Zum anderen ist es wichtig, dass sie in ihrem Aufwachsen einen «roten Faden» erleben, ihre Form des Aufwachsens reflektieren und biografisch integrieren können (Höfer et al., 2017). Es ist also höchst relevant, die systematische Biografie- und Erinnerungsarbeit weiterzuentwickeln.

Kinder- und Jugendheime sowie Pflegefamilien sind unterschiedlich ausgerüstet, um Heranwachsende in der Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls trotz fragmentierter Lebenswege zu unterstützen. Während manche Institutionen die Biographiearbeit systematisch pflegen, bieten andere keine oder nur punktuelle Unterstützung. So bleibt es oft dem Zufall überlassen, wie die Institutionen der stationären Erziehungshilfe das Aufwachsen dokumentieren und biografisch bearbeiten. Wechsel bergen zudem das Risiko, dokumentierte Erinnerungen dem Kind nicht mitzugeben oder begonnene Prozesse der Biographiearbeit nicht fortzusetzen. 

Zugehörigkeit aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen

Die BFH erforscht erstmals für die Schweiz in einer qualitativen Längsschnittstudie die «Zugehörigkeit aus der Sicht fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher». Die Studie begleitet die Zielgruppe somit über mehrere Jahre. Ziel des Projektes ist es, Instrumente für eine selbstbestimmte Dokumentation von Erinnerungen und für die sozialpädagogische Biografiearbeit zu entwickeln (vgl. Bitsch et al., 2022). Das Forschungsteam interessiert, wie Kinder und Jugendliche in stationären Erziehungshilfen «Zugehörigkeit» erleben. Wie können sie unterstützt werden, ihr Zugehörigkeitsgefühl zu dokumentieren? Was benötigen sie, um einen biografischen «roten Faden» zu knüpfen? 

Was wird gemacht?

Die von 2021 bis 2027 laufende Langzeitstudie ist ein Kooperationsprojekt mit «YOUVITA», dem Branchenverband der Dienstleister für Kinder und Jugendliche. Die Studie nach der Methode des «mosaic approach» (vgl. Kasten oben) setzt sich aus drei Teilprojekten zusammen: 
1) Entwicklung der Web-App MemoryBox, 
2) Erarbeitung des Methodenkoffers und
3) Verfassen einer qualitativen Begleitstudie.

Teilprojekt 1: MemoryBox

Gemeinsam mit einem Team des Departements Technik und Informatik der BFH, fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen sowie sozialpädagogischen Fachpersonen entwickelt das Projektteam die Web-App «MemoryBox». In der App können die Jugendlichen selbst Erinnerungen an die Lebensphasen der Fremdplatzierung dokumentieren. Jüngere Kinder werden dabei von Fachpersonen unterstützt. Diese Erinnerungen stehen den Kindern und Jugendlichen an allen ihren Orten des Aufwachsens selbstbestimmt, örtlich unabhängig und langfristig digital zur Verfügung. Dieses Teilprojekt ist im Jahr 2022 abgeschlossen worden und die Web-App wird 2023 nach dem Zusatzprojekt «MemoryBox goes live» dem externen Anbieter (Youvita) übergeben.

Teilprojekt 2: Methodenkoffer

Auf evidenzbasierter Grundlage und in Zusammenarbeit mit fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen sowie sozialpädagogischen Fachpersonen werden kreative Tools entwickelt, um Erinnerungen zu dokumentieren. Dazu können beispielsweise ein Kuscheltier-Steckbrief, persönliche Hitparadenhits, Kurzinterviews mit Peers oder Fotodokumentationen zählen. Die Kinder und Jugendlichen halten damit Erinnerungen an bedeutsame Menschen, Orte, Aktivitäten, Tiere und Gegenstände fest, denen sie sich während ihrer Fremdplatzierung zugehörig fühlen. Diese Dokumentationen werden digitalisiert und in die MemoryBox hochgeladen. In der App visualisiert ein Zeitstrahl, wann sie festgehalten wurden. Eine Erinnerung steht den Heranwachsenden somit langfristig zur Verfügung. Dieses Teilprojekt ist aktuell in der Abschlussphase.

Teilprojekt 3: Qualitative Begleitstudie

In der anschliessenden Begleitstudie, die verschiedene qualitative Methoden miteinander verbindet, wird während vier Jahren dokumentiert, wie sich die Zugehörigkeit fremdplatzierter Kinder und Jugendlicher unterstützt durch die oben genannten zwei Instrumente entwickelt. Die Studie stellt damit erstmals Befunde zum Thema zur Verfügung. Youvita unterstützt die Suche nach teilnehmenden Kindern und Jugendlichen sowie nach Institutionen. Dieses Teilprojekt startet im März 2023. Gegenwärtig laufen dafür die Vorbereitungen. Institutionen, die an einer Teilnahme an der Studie interessiert sind, sind eingeladen, sich bei den Autorinnen zu melden. 

Warum ist die Studie wichtig?

«Meine Erinnerungen an meine Kindheit finden sich alle zu Hause», erklärt ein 14-Jähriger während des Interviews. Er lebt bei seinen Eltern. Deshalb benötige es aus seiner Sicht grundsätzlich keine Hilfsmittel, um Erinnerungen festzuhalten: Seine Eltern tun es für ihn. Anders ist dies womöglich bei fremdplatzierten Kindern und Jugendlichen. Hier setzt die Langzeitstudie an, die adressatenorientiert, digitalbasiert und partizipativ durchgeführt wird. Ziel ist es, fremdplatzierte Kinder und Jugendliche in ihrer Erinnerungsarbeit zu befähigen. Mit ihrer Mitwirkung und mit angemessenen digitalen Instrumenten sollen sie unterstützt werden, sich ihrer Zugehörigkeit(en) bewusst zu werden. Mit Zugehörigkeit ist gemeint: sich an einem Ort zuhause zu fühlen und mit bestimmten Menschen, Gruppen, Aktivitäten oder Gegenständen eine starke Verbundenheit zu spüren. Dies sind zentrale Referenzen, die dazu beitragen, die eigene Persönlichkeit auszubilden: Die Heranwachsenden stärken ihr Selbstwertgefühl, erleben Selbstwirksamkeit und loten den Raum zwischen Selbstbestimmung und pädagogischem Schutz aus. Wenn sie diese Fähigkeiten ausbilden, können die Heranwachsenden biografische und gesellschaftliche Herausforderungen einordnen und mit diesen umgehen (Scherr, 2007). 

Die Langzeitstudie soll aufzeigen, wie junge Menschen ohne ein kontinuierliches Zuhause ihre Lebensphasen dokumentieren können und wie sie sich damit Erinnerungen für später zugänglich machen. Sie erhalten auf diese Weise eine Stimme und werden in ihrem belasteten Aufwachsen nachhaltig darin unterstützt, ihren eigenen «roten Faden» zu knüpfen und so ihre Biografie zu erschliessen. Die vielen Kinder und Jugendlichen, die in der ganzen Schweiz über eine kürzere oder längere Zeit in Kinder- und Jugendheimen beziehungsweise in Pflegefamilien aufwachsen, könnten so direkt von der MemoryBox und dem Methodenkoffer profitieren.
Gleichzeitig können auch junge Menschen in anderen Kontexten die digitalen Produkte nutzen. Es ist wünschenswert, dass auch sie von den Erkenntnissen profitieren, indem diese in den Fachdiskurs übertragen und in den jeweiligen Kontexten eingesetzt werden. Die Ergebnisse und Produkte sind auch für die stationäre Erziehungshilfe wegweisend: Ihre Interventionen können sich im Sinne der Nachhaltigkeit entwickeln, weil mehr Wissen verfügbar ist, wie und welche Erinnerungsdokumentation sich auf die Entwicklungsprozesse, Lebensqualität und Lebensverläufe der betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie auf ihre Familiensysteme auswirken. 

Methode und Zeitplan

In Anlehnung an den kindheitsethnographischen Ansatz «mosaic approach» werden Kinder und Jugendliche mittels Beobachtungen, Begehungen, Einzelinterviews und Gruppendiskussionen befragt und begleitet. Dieses multimethodische Vorgehen eignet sich, um die vielschichtigen und sich wandelnden Kinder- und Jugendwelten kinderzentriert zu erforschen (Clark, 2017) und sich dabei an partizipativen Grundsätzen der «User involved research» (Chiapparini, 2016) zu orientieren. 
 

Dieser Artikel ist im Januar 2023 im Printmagazin «impuls» erschienen.

Literatur

  • Abraham, Andrea & Steiner, Cynthia Cristina. (2022). Zugehörigkeit zu biografisch belasteten Vätern als ausgeprägte familiale Ambivalenzerfahrung: eine qualitative Studie zur Perspektive betroffener Töchter. Neue Praxis 3(22).
  • Bitsch, K., Leoni, T., Puttick, AR., Samim, Y; Steiner, C., Ben Souissi, S., Kurpicz-Briki, M., Abraham, A. & Chiapparini, Emanuela. (2022, eingereicht): MemoryBox instead of blackbox: A digital solution for biography work for children in foster care institutions. Journal of Technology in Human Services.
  • Bombach, Clara, Gabriel, Thomas, Stohler, Renate & Werner, Karin. (2019). «Dass mal jemand meine Sicht versteht, wie das für mich ist»: Partizipation von Pflegekindern bei Abbrüchen von Pflegeverhältnissen. In Sabrina Göbel, Ute Karl, Marei Lunz, Ulla Peters & Maren Zeller (Hg.), Übergangs- und Bewältigungsforschung. Wege junger Menschen aus Heimen und Pflegefamilien: Agency in schwierigen Übergängen (S. 225–239). Beltz Juventa.
  • Chapon, Nathalie. (Hg.) (2016). Parentalité d’accueil et mémoire. Presses universitaires de Provence.
  • Chiapparini, Emanuela. (Hrsg.) (2016). The Service User as a Partner in Social Work Projects and Education. Concepts and Evaluations of Courses with a Gap-Mending Approach in Europe. Barbara Budrich.
  • Clark, Alison. (2017). Listening to young children. A guide to understanding and using the mosaic approach. Jessica Kingsley Publishers.
  • Fellmann, Lukas, Kindler, Tobias & Schmid, Thomas. (2020): Lebensverläufe von Kindern und Jugendlichen in stationären Erziehungshilfen. Möglichkeiten und Grenzen von amtlichen Statistiken aus der Schweiz. Zeitschrift für Kindes- und Erwachsenenschutz ZKE 75 (2), S. 134–150.
  • Höfer, Renate, Sievi, Ylva, Straus, Florian & Teuber, Kristin. (2017). Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf. Handlungsbefähigung und Wege in die Selbstständigkeit. Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich.
  • Osswald, Jana. (2021). The Child’s best Interests und die Frage der Rückplatzierung aus Kinder- und Jugendheimen. Eine qualitative Untersuchung zu Rückplatzierungsfragen und Rückplatzierungsprozessen. FHNW.
  • Werner, Karin, Gabriel, Thomas, Stohler, Renate & Bombach, Clara. (2018). Die ungeplante Austrittsgestaltung aus Pflegefamilien. Forum Erziehungshilfen, 24(1): 47–52.
  • Wiemann, Irmela & Lattschar, Birgit. (2013). Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte: Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit. Beltz.

Mehr erfahren